Kosmische Geschwindigkeitskontrolle offenbart überraschend unruhigen massereichen Sternhaufen
Archivmeldung vom 05.06.2010
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittMit Hilfe des NASA/ESA-Weltraumteleskops Hubble haben Astronomen des Max-Planck-Instituts für Astronomie in Heidelberg und der Universität zu Köln Sternbewegungen in einem der massereichsten jungen Sternhaufen der Milchstraße hochpräzise vermessen. Dazu verglichen sie Beobachtungen, die zehn Jahre auseinander liegen. Der Vergleich liefert die Bewegungen von Hunderten von Sternen – und eine Überraschung: Unerwarteter Weise haben die Sterne des Haufens noch keinen langfristig stabilen Gleichgewichtszustand erreicht. Die Ergebnisse sind als »Letter« im Astrophysical Journal veröffentlicht worden.
Offene Sternhaufen (wie die bekannten Plejaden) sind nicht von Dauer: Im Laufe von Dutzenden von Millionen Jahren laufen ihre Sterne auseinander. Bei sehr massereichen und kompakten Sternhaufen ist das anders: Langfristig können sich aus ihnen langlebige »Kugelsternhaufen« entwickeln, deren dicht gepackte Sterne über Milliarden von Jahren hinweg zusammenbleiben.
Mit mehr als 10.000 Mal der Masse der Sonne, konzentriert in einem Volumen mit nur drei Lichtjahren Durchmesser, ist der junge Sternhaufen in dem Nebel NGC 3603 einer der kompaktesten Sternhaufen in unserer Heimatgalaxie, der Milchstraße.[1] (Zum Vergleich: In unserer direkten kosmischen Nachbarschaft findet sich im gleichen Volumen nur ein einziger Stern, nämlich unsere Sonne.) Wird er sich zu einem Kugelsternhaufen entwickeln?
Dieser Frage ist eine Gruppe von Astronomen unter der Leitung von Wolfgang Brandner (Max-Planck-Institut für Astronomie, Heidelberg, MPIA) nachgegangen, indem sie die Bewegung von hunderten der Sterne des Haufens verfolgt hat. Solche Untersuchungen können zeigen, ob der Haufen auseinanderdriftet, oder ob er sich anschickt, zur Ruhe, sprich: zu einem langfristig stabilen Gleichgewichtszustand zu kommen. Außerdem erlauben sie es, die Sterne des Haufens von unbeteiligten Sternen zu unterscheiden, die nur zufällig von der Erde aus gesehen in der gleichen Blickrichtung stehen.
Die dafür nötigen Messungen sind ausnehmend schwierig. Zum Vergleich: Angenommen, ein Stern bewege sich von der Erde aus gesehen mit einer Geschwindigkeit von einigen Kilometern pro Sekunde seitwärts – eine typische Geschwindigkeit für Sterne in Sternhaufen. Aus einer Entfernung von 20.000 Lichtjahren betrachtet (dem Abstand von NGC 3603 zur Erde) verändert sich die Position eines solchen Sterns am Nachthimmel nur um einige Milliardstel eines Winkelgrads pro Jahr. Auch mit modernsten Instrumenten und Auswertungsmethoden stellt der Nachweis solch winziger Verschiebungen eine große Herausforderung dar.
Mit Hilfe zweier Beobachtungen, die im Abstand von zehn Jahren mit ein und derselben Kamera des Weltraumteleskops Hubble durchgeführt wurden, und dank aufwändiger Auswertungen, die eine Vielzahl von Störquellen berücksichtigen, konnten Brandner und seine Kollegen die nötige Genauigkeit erreichen.
Insgesamt beobachteten die Astronomen 800 Sterne. Rund 50 davon stellten sich als Vordergrundsterne heraus, die nicht zu dem betrachteten Sternhaufen gehörten. Für 234 der übrigen mehr als 700 Sterne – eine im Hinblick auf Masse und Oberflächentemperatur recht vielfältige Auswahl – konnten die Astronomen hinreichend genaue Geschwindigkeitsmessungen vornehmen.[2] Boyke Rochau (MPIA), der Erstautor des Fachartikels, in dem die neuen Ergebnisse präsentiert werden, hat sich im Rahmen seiner Doktorarbeit um die Auswertung der hier beschriebenen Beobachtungen gekümmert. Er erklärt: »Unsere Messungen sind bis auf 27 Millionstel einer Bogensekunde pro Jahr genau. Stellen Sie sich einen Beobachter in Bremen vor, der aus der Ferne ein Objekt in Wien beobachtet. Bewegt sich dieses Objekt um die Breite eines menschlichen Haares zur Seite, dann ändert sich seine scheinbare Position um 27 Millionstel einer Bogensekunde.« [3]
Die Verteilung der Sterngeschwindigkeiten überraschte die Forscher. Folgt man weithin akzeptierten Modellen, die mit den Beobachtungen an älteren Kugelsternhaufen gut übereinstimmen, dann sollte die Geschwindigkeit der Sterne in Haufen wie demjenigen in NGC 3603 mit ihrer Masse zusammenhängen: Im Mittel sollten sich Sterne mit geringerer Masse schneller, solche mit größerer Masse langsamer bewegen[4]. Die Sterne des Haufens, für die sich die Geschwindigkeiten hinreichend genau bestimmen ließen, haben Massen zwischen 2 und 9 Sonnenmassen. Doch ihre mittlere Geschwindigkeit hängt nicht von der Masse ab, sondern beträgt durchweg rund 4,5 Kilometer pro Sekunde (entsprechend einer Positionsänderung von rund 140 Millionstel Bogensekunden pro Jahr).
Offenbar – und überraschender Weise – hat sich in diesem massereichen Sternhaufen noch kein Gleichgewicht eingestellt. Stattdessen dürften die Sterngeschwindigkeiten nach wie vor maßgeblich von den Bedigungen geprägt sein, die bei der Entstehung des Haufens herrschten, vor rund einer Million Jahren. Andrea Stolte von der Universität zu Köln, ein weiteres Mitglied des Astronomenteams, fasst zusammen: »Unsere Messungen liefern Schlüsselinformationen für diejenigen Astronomen, die verstehen wollen, wie solche Sternhaufen entstehen und wie sie sich weiterentwickeln."
Die spannende Frage, ob der massereiche junge Sternhaufen in NGC 3603 zu einem Kugelsternhaufen werden wird, bleibt offen. Den neuen Ergebnissen nach hängt die Antwort davon ab, welche Geschwindigkeiten die Haufensterne haben, deren Massen besonders klein sind. Diese Sterne sind zu leuchtschwach, als dass sich ihre Geschwindigkeiten mit Hilfe des Hubble-Weltraumteleskops genau genug messen ließen. Wolfgang Brandner erklärt: »Um herauszufinden, ob die Sterne dieses Haufens mit der Zeit auseinanderlaufen werden oder nicht, sind wir auf die nächste Generation von Teleskopen angewiesen, etwa das James Webb Space Telescope (JWST), oder das European Extremely Large Telescope (E-ELT) der ESO.« [5]
Endnoten
[1] Der Nebel liegt in der Mittelebene der Scheibe unserer Heimatgalaxie, der Milchstraße, im so genannten Carina-Spiralarm. Er ist mehr als 20,000 Lichtjahre von der Erde entfernt.
[2] Sowohl für sehr massereiche als auch für sehr massearme Sterne lässt sich die nötige Genauigkeit nicht erreichen. Dort, wo massereiche und damit typischerweise sehr helle Sterne als Scheibchen auf der Detektorfläche abgebildet werden, tritt Sättigung ein, und die Mitte dieser Sternscheibchen kann darum nur vergleichsweise ungenau bestimmt werden. Sterne mit geringer Masse sind umgekehrt zu leuchtschwach, und heben sich damit nicht klar genug vom Hintergrund ab ("niedriges Verhältnis vom Signal zum Rauschen"), als dass Positionsbestimmungen der benötigten Genauigkeit möglich wären.
[3] Genauer gesagt sollten alle diese Sterne im Mittel die gleiche Bewegungsenergie haben. Bewegungsenergie ist proportional zur Masse eines Objekts, und zum Quadrat seiner Geschwindigkeit. Dementsprechend sollten Sterne mit der Hälfte der Sonnenmasse sich im Mittel vier Mal so schnell bewegen wie Sterne mit einer Sonnenmasse.
[4] Beobachter und Objekt sind dann 800 km voneinander entfernt.
[5] Das James Webb Space Telescope (JWST) ist ein geplantes Infrarot-Weltraumteleskop mit einem Spiegeldurchmesser von 6,5 Metern, das in internationaler Partnerschaft unter Leitung der NASA entwickelt wird und 2014 ins All geschossen werden soll. Das European Extremely Large Telescope (wörtlich das "Europäische extrem große Teleskop") ist ein bodengebundenes Teleskop der nächsten Generation, dessen Spiegel einen Durchmesser von 42 Metern haben soll. Es wird von einem internationalen Konsortium unter Leitung der Europäischen Südsternwarte (ESO) entwickelt, und soll 2018 fertiggestellt sein. Bei beiden Teleskopen sind deutsche Institute, etwa das Max-Planck-Institut für Astronomie, an der Entwicklung von Komponenten und Instrumenten beteiligt.
Quelle: Max-Planck-Institut für Astronomie