Zwei Nervenzellen im Direktkontakt
Archivmeldung vom 28.10.2006
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittErstmalig haben Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Neurobiologie in Martinsried bei München zeigen können, wie zwei Nervenzellen aus unterschiedlichen Hemisphären im Sehzentrum miteinander korrespondieren. Dieser in seiner Einfachheit verblüffende Schaltplan könnte irgendwann auch eine Vorlage liefern für Algorithmen, die in technischen Systemen zum Einsatz kommen. (Nature Neuroscience, 10. Oktober 2006)
Bewegungen im Raum erzeugen bei Mensch und Tier sogenannte
optische Flussfelder, die für die jeweilige Bewegung charakteristisch sind. Bei
einer Vorwärtsbewegung fließen die Objekte seitlich vorbei, Objekte frontal
vorne vergrößern sich und weit entfernte Objekte ändern sich beinahe gar nicht.
Auf höherer Ebene im Sehzentrum des Gehirns muss daher eine Verrechnung der
visuellen Information stattfinden, damit die Tiere ihre eigene Bewegung von der
bewegten Umgebung unterscheiden können und eventuell eine Kurskorrektur
vornehmen können. Wichtig für die Analyse der Flussfelder ist, dass die
Bewegungsinformation von beiden Augen zusammen geführt wird, um das gesamte
Flußfeld beurteilen zu können. In ihrer aktuellen Studie haben Karl Farrow,
Jürgen Haag und Alexander Borst erstmalig die direkte Verschaltung von zwei
Nervenzellen nachgewiesen, die aus der jeweils anderen Gehirnhälfte stammen, und
so die Bewegungssignale von beiden Facettenaugen der Fliege miteinander
kombinieren.
Die Nervenzellen, die optische Flussfelder analysieren, die
sogenannten Tangentialzellen, befinden sich bei der Schmeißfliege in der
Lobula-Platte. Pro Gehirnhälfte existieren nur 60 solcher Tangentialzellen, und
jede dieser 60 Zellen ist individuell identifizierbar. Die Martinsrieder
Neurowissenschaftler haben eine Zelle ins Visier genommen, die H2-Zelle. Diese
Zelle zeigt eine starke Präferenz für Rotations-Flussfelder, so wie sie bei
Drehung der Fliege um ihre Körperhochachse auftreten. Das Interessante daran
war, dass diese Zelle zunächst nur auf Bewegungen vor ihrem eigenen Auge
(ipsilateral) zu reagieren scheint, für Bewegungen vor dem anderen Auge
(contralateral) dagegen offenbar blind ist. Kombiniert man jedoch die
ipsilateralen mit contralateralen Bewegungsreizen, so erkennt man, dass letztere
sehr wohl die Reaktionen auf ipsilaterale Bewegungsreize modulieren. "Der
Präferenz der H2-Zelle für Drehreize liegt also eine nicht-lineare Verrechnung
der Bewegungsreize von beiden Augen zu Grunde, und den Ursachen für diese
Nicht-Linearität wollten wir auf die Spur kommen", so Alexander
Borst.
Der nächste Schritt bestand darin, den Schaltplan der
Tangentialzellen der Lobula-Platte genau zu analysieren. Das geschah auf der
Basis einer Vielzahl von Experimenten, in denen die Verbindungen zwischen den
Zellen innerhalb einer Lobula-Platte und denen zwischen den beiden Hemisphären
untersucht wurden. Es ergaben sich letztendlich zwei Wege, auf denen die
Bewegungsinformation von der einen Gehirnhälfte die H2-Zelle in der anderen
erreichen konnte: zum einen direkt von der sogenannten HSE-Zelle, welche mit der
H2-Zelle der gegenüberliegenden Hemisphäre elektrisch gekoppelt ist, zum anderen
indirekt über die CH-Zelle, welche über mehrere Stationen Informationen von der
anderen Gehirnhälfte bekommt und die H2-Zelle, die auf der gleichen Seite wie
sie liegt, über chemische Synapsen hemmt. Beide Verbindungsbahnen waren im
Prinzip dazu geeignet, den beschriebenen Effekt zu erzielen, die Frage war nur,
welche von beiden ist die entscheidende?
Die Max-Planck-Wissenschaftler
blockierten deshalb die beiden in Frage kommenden Bahnen selektiv durch
Laserablation (die Zelle wird mit einem Fluoreszenzfarbstoff gefüllt, der bei
starker Anregung toxisch wirkt) und testeten anschließend die
Rotationsempfindlichkeit der H2-Zelle. In einer langen Serie dieser technisch
sehr schwierigen Experimente gelang dann der eindeutige Nachweis: Wurde die
ipsilaterale CH-Zelle zerstört, zeigte sich kein Effekt auf die
Rotationsempfindlichkeit der H2-Zelle. Wurde jedoch die contralaterale HSE-Zelle
aus dem Schaltkreis entfernt, war die Rotationsempfindlichkeit der H2-Zelle
verschwunden. Jetzt war sie tatsächlich für Bewegungsreize vor dem anderen Auge
blind, egal ob sie mit ipsilateralen Bewegungsreizen kombiniert war oder
nicht.
"Das geniale an dieser Verschaltung ist die Einfachheit: Mit einer
einzigen elektrischen Kopplung zweier Zellen aus den beiden Gehirnhälften wird
eine Zelle selektiv für Rotations-Flussfelder", schwärmt Alexander Borst über
die Entdeckung. Ob die Natur bei Säugertieren auf ähnlich einfache Mechanismen
gebaut hat, ist noch unklar - noch ist die Verschaltung der Nervenzellen in den
entsprechenden Arealen der Großhirnrinde nicht hinreichend aufgeklärt, um solche
Experimente sinnvoll durchführen zu können. Und ob sich jemals Effekte zeigen,
wenn bei den vielen Milliarden Zellen der Großhirnrinde eine einzelne Zelle
herausgenommen wird, ist eher fraglich.
Das bedeutet freilich nicht, dass der Befund der Martinsrieder Fliegenforscher ohne Konsequenzen für andere Bereiche der Wissenschaft bleibt: So setzen z.B. Ingenieure bei der Entwicklung autonom navigierender Roboter und Fahr-Assistenz-Systeme gerne auf einfache und robuste Algorithmen, wie sie die Natur in Insekten realisiert hat. Die Mechanismen der optischen Flussfeld-Analyse eignen sich daher ganz hervorragend für eine technische Umsetzung. Im Rahmen zweier vom BMBF geförderter Projekte (Bernstein Zentrum München und ‚Cognition in Technical Systems’ (CoTeSys)) werden die Martinsrieder Neurobiologen gemeinsam mit ihren Kollegen von der TU München die nächsten Jahre verstärkt daran arbeiten. Die Abteilung Neuronale Informationsverarbeitung unter Leitung von Alexander Borst ist auch am erst kürzlich an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität mit Exzellenz ausgezeichneten Graduierten-Ausbildung "School of Systemic Neurosciences" beteiligt.
Quelle: Pressemitteilung Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V.