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Relativitätstheorie auf der Überholspur: Neue Kraft auf großen Distanzen

Archivmeldung vom 20.11.2010

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 20.11.2010 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt
Massen (etwa Sterne und Planeten) krümmen die Raumzeit. Bild: Florian Aigner, TU Wien
Massen (etwa Sterne und Planeten) krümmen die Raumzeit. Bild: Florian Aigner, TU Wien

Einstein hat unser Verständnis des Universums revolutioniert – doch bis heute sind zentrale Fragen der Gravitationsphysik unbeantwortet geblieben. Zwar kann man heute Planetenbewegungen um die Sonne mit großer Präzision berechnen – doch die Bewegungsgeschwindigkeit von Sternen rund um das Galaxienzentrum lässt sich bis heute nicht zufriedenstellend erklären. Die Existenz von unsichtbarer „dunkler Materie“ wurde angenommen, um solche Phänomene beschreiben zu können.

Am Institut für Theoretische Physik der TU Wien beschäftigt sich Daniel Grumiller mit der Theorie der Gravitation. Seine Berechnungen zeigen, dass eine Erweiterung der Relativitätstheorie bisher offene Fragen beantworten könnte. Im Fachjournal „Physical Review Letters“ wurden Grumillers Ideen nun (in der Ausgabe vom 19. 11. 2010) veröffentlicht.

Könnte die Schwerkraft bei grossen Distanzen zusätzliche Anteile haben, die bisher unberücksichtigt geblieben sind? Auf der Suche danach ging Daniel Grumiller zurück zu den Grundlagen der Gravitationstheorie. Als Ausgangspunkt stellte er die Frage: „Welche Art von Formeln, mit denen man die Gravitation beschreiben könnte, ist mathematisch überhaupt erlaubt?“ Nur ganz bestimmte mathematische Ausdrücke lassen sich in die Physik der Gravitation einbauen, ohne Symmetrien zu verletzen, die wir im Universum vorfinden, oder unseren täglichen physikalischen Beobachtungen eindeutig zu widersprechen.

Die unbekannte Zusatz-Kraft

Daniel Grumiller vereinfachte die Gravitationstheorie, indem er zunächst kugelsymmetrische Fälle betrachtet – so lässt sich etwa das Gravitationsfeld eines Planeten, eines Sternes oder einer annähernd sphärischen Galaxie beschreiben. „Man kann dann mathematisch zeigen, aus welchen Beiträgen sich die Gravitationskraft zusammensetzen muss“, erklärt Grumiller. Manche Beiträge sind wohlbekannt: Die klassische Newtonsche Schwerkraft und eine Erweiterung dazu, die aus der Relativitätstheorie kommt – beides nimmt mit der Entfernung ab. Auch Einsteins „Kosmologische Konstante“, die bei extrem großen Distanzen eine Rolle spielt, taucht in Grumillers Gleichungen ganz automatisch auf. Zusätzlich aber findet man auch noch einen weiteren Beitrag zur Gravitation: Eine konstante Kraft, die zwischen zwei Objekten unabhängig von ihrer Entfernung wirkt – Grumiller nennt sie „Rindler-Kraft“, nach dem in Wien geborenen Gravitationsphysiker Wolfgang Rindler. Diese Kraft ist freilich so klein, dass man sie im täglichen Leben nicht beobachten kann. „Sie steht nicht im Widerspruch zur Relativitätstheorie, sondern ist eine Erweiterung, die sich in das Gebäude der Relativitätstheorie nahtlos einfügt“, meint Grumiller.

Schneller als Einstein erlaubt

In einem ersten Versuch, die Größe dieser Zusatz-Kraft abzuschätzen, berechnete Grumiller die Rotationsgeschwindigkeit von Sternen rund um das Galaxiezentrum – denn bei galaktisch großen Entfernungen, bei denen die klassische Schwerkraft winzig klein wird, spielt die neugefundene Rindler-Kraft eine entscheidende Rolle. Und tatsächlich zeigte sich, dass Grumillers Formeln die erstaunlich großen Rotationsgeschwindigkeiten, die man beobachten kann, qualitativ viel besser beschreiben als bisherige Berechnungen. „Das ist ein Hinweis darauf, dass die Rindler-Kraft nicht nur mathematisch erlaubt ist, sondern tatsächlich in der Natur auftritt“, meint Daniel Grumiller.

Das Rätsel um die Pioneer-Sonde

Mit derselben Methode untersuchte Grumiller ein weiteres Rätsel der Gravitationsphysik: Die Pioneer-Anomalie. Schon seit Jahren beobachtet man, dass sich Raumsonden wie Pioneer 10 und Pioneer 11, die sich weit von Erde und Sonne entfernen, nicht exakt auf den Bahnen bewegen, die von der Relativitätstheorie vorausgesagt werden. „Auch diese Bahnen kann man beschreiben, wenn man eine kleine, konstante Zusatzkraft annimmt, die Richtung Sonne wirkt – wie die Rindler-Kraft“, erklärt Grumiller.

Trotz dieser bemerkenswerten Erfolge gibt es in diesem Forschungsprojekt freilich noch viel zu tun: „Es wird spannend sein, dieses vereinfachte Modell in voller Allgemeinheit in die vierdimensionale Relativitätstheorie einzubauen“, meint Grumiller, und erhofft sich davon ein besseres Verständnis dafür, was die Stärke der Rindler-Kraft bestimmt, und einen Einblick in die Frage, wie sie mit der „dunklen Materie“ zusammenhängt. Denn wie Grumiller betont bleibt sein Modell derzeit noch agnostisch in Bezug auf die Frage ob es „dunklen Materie“ gibt.

Astronomen stellen Dunkle Materie infrage

In einem gemeinsamen Forschungsprojekt untersuchen Gerhard Hensler vom Institut für Astronomie der Universität Wien und sein Kollege Pavel Kroupa von der Universität Bonn sogenannte Gezeiten-Zwerggalaxien. Sie sind in jenen großen Materieauswürfen (Gezeitenarmen) zu finden, die beim Verschmelzen zweier Galaxien entstehen. Das bessere Verständnis der Gezeitenzwerge bedeutet für die beiden Sternforscher, sich von einer Theorie zu entfernen, die in der Astronomie fast schon als Dogma gilt: In ihrer aktuellen Publikation im Journal "Astronomy and Astrophysics" stellen sie die Existenz der Dunklen Materie infrage.

"Die Mehrzahl der AstronomInnen ist davon überzeugt, dass sich 'das Universum und der ganze Rest' nur mit der Existenz von Cold Dark Matter (CDM) erklären lässt – das ist Materie, die nicht direkt beobachtbar ist, aber die Masse im Universum bei weitem dominiert und gravitativ mit sichtbarer Materie wechselwirkt, ohne sich wie diese zu verhalten", sagt Gerhard Hensler vom Institut für Astronomie. Seit den 1970er-Jahren wird erfolglos nach den unsichtbaren Teilchen geforscht.

Was das Universum zusammenhält

"Die Idee der Dunklen Materie hat sich derart festgesetzt, dass viele keine Kritik daran akzeptieren", so Hensler, der diese Haltung teilweise nachvollzieht: "Auf großen Skalen funktioniert die Theorie wunderbar. Es gibt zurzeit keine bessere Erklärung für bestimmte Phänomene, die wir zwar beobachten, aber nicht allein mit der Masse der sichtbaren Materie erklären können." Dazu gehört u.a., dass Galaxien so schnell rotieren, dass die Sterne darin nicht den Gesetzen der Fliehkraft entsprechen. Kalte Dunkle Materie hält angeblich dank ihrer Masseanziehung die Galaxien zusammen.

Zweifel verdichten sich

Das CDM-Szenario wankt, sobald man sich auf kleine Skalen begibt. Gerhard Hensler vom Institut für Astronomie der Universität Wien und sein Bonner Kollege Pavel Kroupa untersuchen Satellitengalaxien, die um unsere Milchstraße kreisen: "Hier passen die Vorhersagen vorne und hinten nicht mit den Beobachtungsdaten überein." In einer aktuellen Publikation im Journal "Astronomy und Astrophysics" präsentieren sie mit Kollegen aus Deutschland, Frankreich und Australien fünf Widersprüche, die das Dunkle-Materie-Modell vor massive Probleme stellen. Die Ergebnisse basieren auf Beobachtungsdaten von rund 50 Satellitengalaxien der Milchstraße und des Andromeda-Nebels.

Fünf Widersprüche

Einer dieser Widersprüche ist die Diskrepanz zwischen den errechneten und den beobachteten Masse-Leuchtkraft-Verhältnissen in Satellitengalaxien: Nach dem CDM-Szenario sollten sie umso heller leuchten, je mehr Dunkle Materie sie enthalten, da Dunkle Materie sichtbare Materie anzieht. "Die Ergebnisse unserer Parameterstudie weichen jedoch eindeutig von den Vorhersagen der Simulationen ab", erläutert Hensler.

Weiters sollten dem Modell zufolge mindestens 1.000 Satellitengalaxien um unsere Milchstraße und den Andromeda-Nebel kreisen. "Tatsächlich sehen wir aber nur 25, und die sind nicht zufällig verteilt wie die Theorie vorhersagt, sondern bilden eine Art Scheibe." Deshalb bevorzugen die beiden Wissenschafter die These, dass diese Zwerggalaxien als Gezeitengalaxien entstanden sind.

Suche nach Alternativen

Auch weitere Beobachtungen, etwa Schwankungen in der Rotationkurve von Galaxien, können mit dem CDM-Modell nicht erklärt werden "Wir müssen anfangen, Alternativen ernsthaft in Erwägung zu ziehen", so Hensler. Dazu zählt die Anpassung der Newtonschen Gravitationstheorie – wie es die VertreterInnen der Modifizierten Newtonschen Dynamik (MOND-Theorie) versuchen. "Vermutlich liegt die Ursache sogar noch tiefer in den Grundfesten unserer Physik", so Hensler.

Quelle: Technische Universität Wien

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