Alter Schädelknochen neu entdeckt
Archivmeldung vom 14.08.2012
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittIm Embryo lässt er sich klar erkennen. Kurze Zeit später verschmilzt er bis zur Unkenntlichkeit mit anderen Knochen. Deshalb haben ihn die Forschenden bisher öfter übersehen. Jetzt aber haben ihn Paläontologen der Universität Zürich neu entdeckt: den Os interparietale, ein Schädelknochen, der auch Zwischenscheitelbein genannt wird. Unter Zuhilfenahme von bildgebenden Methoden haben sie sein Vorkommen bei allen Säugetieren nachweisen können – auch beim Menschen. Das ist neu, denn bis heute glaubte man ihn evolutionsbedingt als verloren.
Der Schädel von Säugetieren, einschließlich der des Menschen, setzt sich aus etwa 20 Knochen zusammen. Über weitaus mehr Knochen verfügen dagegen die Schädel der Fische, Reptilien und Vögel. Denn als sich vor 320 Millionen Jahren aus den reptilienartigen Wirbeltieren die Säugetiere entwickelten, hatte sich bei der Entwicklung des Schädels dessen Struktur vereinfacht sowie die Anzahl Schädelknochen reduziert.
In der zu den Säugetieren führenden Abstammungslinie gingen während der Evolution einige Knochen verloren, insbesondere auch etliche Knochen des Schädeldachs. Das Zwischenscheitelbein aber, auch «Os interparietale» genannt, das ebenfalls zu den Knochen des Schädeldaches gehört, gab der Forschung Rätsel auf: Einerseits scheint es erhalten, etwa beim Menschen, bei den Karnivoren und den Huftieren (beispielsweise bei den Pferden), andererseits findet man es nicht bei allen Säugetieren. Eine Erklärung hierfür gab es bisher nicht.
Marcelo Sánchez, Professor für Paläontologie der Universität Zürich, und der Postdoktorand Daisuke Koyabu haben jetzt zusammen mit einem Kollegen der Universität Tübingen das Vorhandensein des Zwischenscheitelbeins doch nachweisen können: Sie haben Fossilien und Embryos von mehr als 300 Wirbeltierarten untersucht, und bei allen konnten sie den Knochen identifizieren. Zum Einsatz gekommen waren nichtinvasive Mikro-Computertomographie-Aufnahmen, analysiert hatten sie seltene Embryos unterschiedlicher Säugetierarten aus Museumssammlungen. «Das Zwischenscheitelbein war in Proben aus der Embryonalperiode deutlich erkennbar, da hier die Schädelknochen weniger stark miteinander verschmolzen sind», erläutert Marcelo Sánchez. Darin, dass der Knochen nur im Embryonalstadium klar und gut erkennbar ist, sieht er gleichzeitig den Grund dafür, dass ihn frühere Forschende nicht erkannt haben: «Scheinbar haben viele Anatomen das Vorhandensein des Zwischenscheitelbeins bei zahlreichen Säugetier-Abstammungslinien übersehen, da dieser Knochen im Verlauf des Wachstums mit anderen Schädelknochen verwächst und bei adulten Individuen unkenntlich wird.»
Derselbe Schädelknochen in Fisch und Mensch
Ein weiteres Resultat, welches ebenfalls bisherige Annahmen widerlegt, bezieht sich auf die Herkunft des Knochens. Daisuke Koyabu berichtet: «Während bisher angenommen wurde, dass das Zwischenscheitelbein der Säugetiere aus zwei Elementen besteht, fanden wir heraus, dass es sich aus vier Elementen entwickelt, einem medialen und einem lateralen Paar.»
Die Plattenknochen unserer reptilienartigen Vorfahren sowie der Fische entsprechen dabei den lateralen Interparietalknochen, welche bisher übersehen wurden, gemäß den neuen Ergebnissen aber in den Abstammungslinien der Säugetiere doch erhalten bleiben.
Mit dieser Zuordnung lässt sich auch der entwicklungsgeschichtlich gemischte Gewebeursprung des Interparietalkomplexes erklären, der zwar bei Mäusen bereits nachgewiesen, jedoch durch herkömmliche anatomische Untersuchungen bisher nicht bestätigt werden konnte: Genetische Untersuchungen haben gezeigt, dass sich das laterale Knochenpaar aus dem Mesoderm, das mediale Paar jedoch aus Neuralleistenzellen entwickelt.
Dieser bisher unerklärbare, gemischte Gewebeursprung des Interparietalkomplexes findet in der aktuellen Studie eine schlüssige Begründung: Er ist auf die evolutionäre Verschmelzung des Os interparietale mit den Plattenknochen in den Abstammungslinien der Säugetiere zurückzuführen.
Die Studie liefert sodann auch Einsichten zu uns Menschen, wie Marcelo Sánchez abschließend festhält: «Der Nachweis der Weiterführung von Fischknochen in Säugetieren bringt neue Erkenntnisse über die Ursprünge unserer eigenen Anatomie.» Möglich wurden diese anatomischen Entdeckungen dank neuem bildgebenden Verfahren, der Mikrotomographie, der Museumssammlungen seltener Tierembryos sowie der fachübergreifenden Zusammenarbeit von Paläontologie und Embryologie.
Quelle: Universität Zürich (idw)