Materie als Blitzgewitter
Archivmeldung vom 30.05.2006
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittWie man sich die Welt im Innern der Atome vorzustellen hat, wurde unter Quantenphysikern von Anfang an kontrovers diskutiert. Die vollständige Erklärung der rätselhaften Quantenphänomene scheitert bisher an Einsteins Relativitätstheorie. Nun hat der Mathematiker Dr. Roderich Tumulka einen Weg gefunden, eines der Modelle der Quantenmechanik mit relativistischen Prinzipien zu vereinbaren. In seinem Modell besteht alle Materie aus "Materieblitzen".
Haben Sie schon mal von Nichtlokalität gehört? Nein? Eine Hilfe: es handelt sich
nicht um eine geschlossene Kneipe oder eine untergegangene Insel. Vielmehr wurde
der Begriff 1964 von dem Quantenphysiker John Bell geprägt. Die Nichtlokalität
besagt, dass das, was an einer Stelle geschieht, schneller als mit
Lichtgeschwindigkeit Einfluss auf die Geschehnisse an einem anderen Ort haben
kann. Aus Einsteins Relativitätstheorie würde man im Gegensatz dazu erwarten,
dass sich Einflüsse höchstens mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten. "Tatsächlich
gilt die kosmische Geschwindigkeitsbegrenzung zwar für Reisende und für die
Übertragung von Botschaften, nicht aber für die gegenseitige Beeinflussung von
Zufallsgrößen", sagt Dr. Roderich Tumulka vom Mathematischen Institut der
Universität Tübingen. "Wenn ich an meinem Schreibtisch eine Zahl aufschreibe,
die ich mir gerade ausgedacht habe, könnte ich diese selbst mit
Lichtgeschwindigkeit erst in einer Sekunde zum Mond vermitteln, bis zu dem Stern
Sirius würde es sogar zehn Jahre dauern. Die Zufallsgrößen der Quantenmechanik
sind dagegen nichtlokal, und das war Bells große Entdeckung." Danach können
Vorgänge in Tübingen schneller als mit einer Lichtreise die Vorgänge auf Sirius
beeinflussen. "Die Nichtlokalität in der Quantenmechanik ist einer der
Hauptgründe, warum sie sich bisher nicht mit der Relativitätstheorie
zusammenbringen ließ", sagt Tumulka. Der 34-jährige Mathematiker hat es sich zur
Aufgabe gemacht, die beiden miteinander zu versöhnen. Er forscht im Grenzbereich
von Mathematik und theoretischer Physik.
Motiviert zu diesem abstrakten
Arbeitsgebiet hat Roderich Tumulka der Wunsch, die Quantenmechanik richtig zu
verstehen. Das hat ihn schon als Studenten gereizt. "In der Mathematik und
Physik gibt es viele schwierige Dinge. Aber etliche davon kann man verstehen,
wenn man einen mathematisch-physikalischen Hintergrund hat und sich einen Monat
lang richtig in das Problem hineinkniet." Die Quantenmechanik sei da ein anderes
Kaliber. "Sie zu verstehen ist ein Forschungsgebiet", meint Tumulka.
Die
Quantenmechanik handelt vom Verhalten der Elektronen, der Photonen oder
Lichtteilchen und der übrigen Elementarteilchen, aus denen Atome bestehen.
"Allerdings lässt sie einige Fragen bis heute unbeantwortet: Sie stellt zwar
Formeln bereit, mit denen sich für jedes Experiment der Quantenphysik die
möglichen Resultate und ihre Wahrscheinlichkeiten berechnen lassen und die heute
zum Pensum jedes Physikstudenten zählen. Doch offen bleibt dabei, wie es zu
diesen Resultaten kommt, und rätselhaft, was sich bei Quantenphänomenen in
Wirklichkeit abspielt", erläutert Tumulka. Dies zu klären sei der Zweck der
mathematischen Modelle, die er und seine Fachkollegen entwickeln und die
"Quantentheorien ohne Beobachter" genannt werden. "Die Väter der Quantenmechanik
glaubten, eine Erklärung der Wahrscheinlichkeiten durch objektive Naturvorgänge
sei unmöglich. Doch das war ein Irrtum. Seit einigen Jahren setzt sich langsam
die Erkenntnis durch, dass zum Beispiel die Bohmsche Mechanik gerade so eine
Erklärung liefert." Diese Theorie sei bereits 1952 von dem amerikanischen
Physiker David Bohm (1917 - 1993) vorgeschlagen worden. "Ihr zufolge bewegen
sich die Teilchen entlang von Bahnen, die durch ein Bewegungsgesetz anhand der
Wellenfunktion festgelegt sind", sagt Tumulka. "Bohm hat die Quantenmechanik
entmystifiziert. Die Bohmsche Mechanik löst ihre Paradoxien und Rätsel auf. Sie
hat nur ein Problem: Wir wissen nicht, wie sie mit der Relativitätstheorie
vereinbart werden kann. Wenn Bohm Recht hat mit seiner Theorie, muss man
vermutlich die Relativitätstheorie etwas abändern."
Ein zweites Modell
ist die GRW-Theorie, benannt nach den Forschern Ghirardi, Rimini und Weber, die
sie 1986 erfanden. "Diese Theorie führt Gleichungen für den spontanen Kollaps
der Wellenfunktion ein", sagt Tumulka. Bei diesem Modell gelang dem Forscher die
ersehnte relativistische Erweiterung. Als entscheidenden Bestandteil hat er die
so genannte Blitz-Ontologie, von John Bell 1987 erfunden, in seinem Modell
aufgegriffen. Ihr zufolge bewegen sich die Materieteilchen nicht in Bahnen,
sondern sie existieren immer nur für einen Augenblick, blitzen sozusagen kurz
auf, und verschwinden dann wieder. "Wenn man in einem Diagramm Raum und Zeit
darstellt, entspricht die Teilchenbewegung in der Bohmschen Mechanik wie in der
klassischen Mechanik einer Kurve. In der Blitz-Ontologie dagegen gibt es im
Raum-Zeit-Diagramm nur Einzelpunkte, und ein gewöhnlicher Gegenstand würde aus
Billionen dieser Punkte seine Gestalt erhalten", erklärt Tumulka. Außerhalb des
Blitzgewitters der Materiepunkte herrsche ein Vakuum. Die Blitzmuster sind
zufällig. "Ich habe Gleichungen für die Wahrscheinlichkeiten beschrieben, wo die
nächsten Blitze stattfinden, wenn die vorherigen bekannt sind", sagt Tumulka. Er
konnte so eine relativistische Variante des GRW-Modells formulieren, die
zugleich nichtlokal ist, weil die Blitze an verschiedenen Orten miteinander auf
nichtlokale Weise korreliert sind. "Das ist die erste voll relativistische
Quantentheorie ohne Beobachter", so Tumulka.
Alle Probleme, die zwischen
Quantenmechanik und Relativitätstheorie stehen, sind damit noch nicht gelöst.
Roderich Tumulka sieht zwei Möglichkeiten, wie der Knoten bei weiteren
Forschungen aufgehen könnte: "Die GRW-Theorie sagt Abweichungen von der
Quantenmechanik voraus, die allerdings so gering sind, dass sie bisher nicht in
Experimenten überprüft werden konnten. Falls sie eines Tages bestätigt wird, ist
die Quantenmechanik nicht ganz korrekt. Falls sie hingegen im Experiment
widerlegt wird, bestätigt das die Bohmsche Mechanik, und dann müssen wir unser
Verständnis der Relativitätstheorie korrigieren." So kompliziert und abstrakt
die Forschungsarbeiten klingen - einen Großrechner braucht der Mathematiker
dafür nicht, im Gegenteil. Er benötige im Prinzip nur Bleistift und Papier, sagt
Tumulka, und steckt gleich noch weiter zurück: "Eigentlich läuft die ganze
Forschung nur in meinem Kopf ab". Ein Einzelkämpfer ist er jedoch keineswegs.
"Der Austausch mit kompetenten Kollegen ist mir wichtig", sagt er. Dafür gibt es
Gelegenheiten gleich im Nebenzimmer mit Prof. Stefan Teufel, aber auch in
München, Italien und New Jersey in den USA. Die Forscher stehen in regem
E-Mail-Austausch, begegnen sich bei Konferenzen oder besuchen sich gegenseitig.
Seine Ideen und Gedanken mit anderen Wissenschaftlern zu besprechen, könne einen
auch davor bewahren, mit seinen Forschungen in eine Sackgasse zu geraten, meint
Tumulka.
Roderich Tumulka will sich auf seiner derzeitigen Stelle
habilitieren. Er hat bereits jetzt einen Ruf als "Assistant Professor" an das
Mathematik-Department der Rutgers University in New Jersey vom Herbst 2007 an.
Sein Ziel sind "klare Antworten", wie der junge Forscher sagt. "Als ich
Quantenmechanik gelernt habe, war das verwirrend, mühevoll und schwer
verständlich. Wichtige Fragen blieben offen, und ich wurde auf philosophische
Wälzer verwiesen, die jedoch überhaupt nicht weiterhalfen", holt er zur
Erklärung ein wenig aus. Die Theorien und Modelle, mit denen er jetzt arbeitet,
findet er dagegen klar und verständlich. "Wenn sich unter anderem durch meine
Forschungen die Quantenmechanik neu darstellen lässt, dann wäre das nicht nur
ein großer Fortschritt für die Physik, sondern man würde es auch daran merken,
dass sich die Quantenmechanik viel leichter verstehen lässt, dass sich alles
ordnet."
Quelle: Pressemitteilung Informationsdienst Wissenschaft e.V.