Viele Medizinstudierende verstehen Statistik nicht
Archivmeldung vom 23.10.2018
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Freigeschaltet durch Manuel SchmidtGute medizinische Versorgung braucht Statistik. Um Studienergebnisse zu verstehen, Risiken abschätzen zu können oder sich für eine Behandlungsmethode zu entscheiden, benötigen Mediziner*innen statistisches Wissen. Mit einem neu entwickelten Schnelltest konnten Forscher*innen des Harding-Zentrums für Risikokompetenz am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in einer Studie zeigen, dass viele Medizinstudierende und Lehrende zu wenig Ahnung von Statistik haben. Der „Schnelltest Risikokompetenz“ und die Ergebnisse der Studie wurden jetzt im BMJ Open veröffentlicht.
Was bedeutet es, wenn ein HIV-Test eine Genauigkeit von 99,5 Prozent hat? Kann eine Darmspiegelung das Risiko verringern, an Darmkrebs zu sterben? Um wie viel Prozent erhöht die Antibabypille das Thromboserisiko? Ärzte müssen sich täglich für Untersuchungsmethoden entscheiden, Diagnoseergebnisse interpretieren und Chancen und Risiken von Behandlungsmethoden abschätzen. In der modernen Medizin sollten diese ärztlichen Handlungen auf dem aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand – also auf Studien und Statistiken – basieren. Daher müssen für eine gute und effektive Gesundheitsversorgung Mediziner*innen Statistiken lesen, interpretieren und kommunizieren können. Doch haben bisherige Untersuchungen bereits gezeigt, dass dies nicht immer der Fall ist.
Um die Statistikkompetenz von Mediziner*innen messen zu können, haben die Wissenschaftler*innen des Harding-Zentrums für Risikokompetenz am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung einen Schnelltest entwickelt. Mit zehn Multiple-Choice-Fragen wird die Fähigkeit, Risiken einzuschätzen und Wahrscheinlichkeiten zu verstehen, sowie das Verständnis zentraler Begriffe aus der Medizinstatistik geprüft. „Die Fragen basieren auf Situationen aus der ärztlichen Praxis. In einem guten Gesundheitssystem müsste jede Medizinerin und jeder Mediziner diese Fragen richtig beantworten können“, sagt Mirjam Jenny, Erstautorin der Studie und Leitende Wissenschaftlerin am Harding-Zentrums für Risikokompetenz.
Doch sieht die Realität anders aus. Für die Beobachtungsstudie haben 169 Studierende und 16 Lehrende den Test durchgeführt. Die Studierenden standen kurz vor ihrem Abschluss an der Charité Berlin, die Lehrenden waren Professor*innen und erfahrene Dozent*innen, die eine Fortbildung an einer deutschen Universität besuchten. Für alle war die Teilnahme an dem Test freiwillig und anonym. Das Ergebnis: Die Studierenden beantworteten im Durchschnitt nur die Hälfte, die Lehrenden dreiviertel aller Fragen richtig.
„Diese Studie zeigt, dass Statistik in der medizinischen Lehre immer noch vernachlässigt wird – das muss sich ändern. Wenn angehende Ärztinnen und Ärzte Statistiken missverstehen, werden sie falsche Informationen auch an ihre Patientinnen und Patienten weitergeben“, sagt Gerd Gigerenzer, Coautor der Studie und Direktor des Harding-Zentrums für Risikokompetenz.
Die Studie konnte aber auch klar zeigen, dass man diese Lücke an statistischem Wissen bei Medizinstudierenden leicht schließen kann. Nachdem die Studierenden den Test zum ersten Mal durchgeführt hatten, nahmen sie an einem Kurs teil, in dem mit theoretischem Input und praktischen Übungen medizinische Statistik gelehrt wurde. Anschließend führten die Studierenden den Schnelltest erneut durch. Dieses Mal beantworteten sie im Durchschnitt 90 Prozent aller Fragen richtig.
Niklas Keller, Coautor der Studie, unterrichtet Medizinstudierende in der Interpretation und Kommunikation medizinischer Statistiken. „Mit mangelnder Statistikkompetenz müssen wir nicht leben“, sagt er. „Bereits ein 90-minütiger Kurs kann die Statistikkompetenz der angehenden Medizinerinnen und Mediziner erheblich verbessern.“
Zwar sei die Studie bisher nur an zwei Orten systematisch durchgeführt und die Zahl der getesteten Lehrenden relativ gering, so die Autor*innen, jedoch entspricht sie dem aktuellen Forschungsstand zu fehlender Statistikkompetenz. Mit dem neuen „Schnelltest Risikokompetenz“ bieten die Wissenschaftler*innen angehenden, praktizierenden und lehrenden Mediziner*innen jetzt eine Möglichkeit, ihr Statistikwissen selbst zu prüfen.
Quelle: Max-Planck-Institut für Bildungsforschung (idw)