Warum Nervenzellen schneller arbeiten als die Theorie erlaubt
Archivmeldung vom 20.04.2006
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittNervenzellen kommunizieren untereinander, indem sie kurze elektrische Impulse aussenden und empfangen. Seit einiger Zeit ist klar, dass die meisten dieser Signale im lebenden Gehirn unbeantwortet bleiben: In jeder Sekunde empfängt eine typische Zelle der Großhirnrinde Tausende Signale, entschließt sich aber oft weniger als ein Dutzendmal selbst einen Impuls auszusenden.
Nach welchen Regeln Nervenzellen der Großhirnrinde von Säugetieren Signale
verarbeiten, fand ein interdisziplinäres Team aus Forschern des
Max-Planck-Instituts für Dynamik und Selbstorganisation und des Bernstein Center
for Computational Neuroscience in Göttingen und Bochumer Neurophysiologen Maxim
Volgushev heraus. Im Widerspruch zum zentralen Modell der Neurophysiologie
(Hodgkin-Huxley-Modell) schlagen sie einen Mechanismus vor, bei dem sich
Natriumkanäle in der Zellmembran gegenseitig unterstützen. Dieses Mechanismus
könnte den Zellen helfen, schnellveränderliche Signale weiterzuleiten und
langsame zu unterdrücken. Über ihre Funde berichten Sie in NATURE vom 20. April
2006.
Funkverkehr zwischen Nervenzellen
Jede lebende Zelle hält
über ihrer Zellmembran eine elektrische Spannungsdifferenz aufrecht.
Nervenzellen nutzen diese Spannungsdifferenz zum Verarbeiten und Weiterleiten
von Nachrichten: Erhält eine Nervenzelle einen starken Reiz, kommt es zu einer
Umkehrung der Spannung über der Zellmembran. Dieses "Aktionspotential" breitet
sich an den Zellfortsätzen der Zelle aus, an deren Ende das Signal an andere
Nervenzellen übertragen wird. Wie ein solches Aktionspotential entsteht, wurde
1952 von Alan Lloyd Hodgkin und Andrew Fielding Huxley anhand von Messungen an
Neuronen des Tintenfisches in einem mathematischen Modell beschrieben. Das mit
dem Nobelpreis ausgezeichnete Hodgkin-Huxley-Modell dient seitdem zur Erklärung
von Elektrogenese in allen Neuronen.
Lawinenartige Reaktion
Nach
dem Hodgkin-Huxley-Modell wird ein Aktionspotential ausgelöst, wenn sich die
elektrische Spannung über der Membran der Nervenzelle bis zu einem gewissen
Schwellenwert verändert. Bestimmte Natriumkanäle werden dadurch geöffnet und
lösen eine lawinenartige Reaktion aus: Durch die Kanäle strömen positiv geladene
Natriumionen in die Zelle, was zur weiteren Verschiebung des Membranpotentials
und der Öffnung weiterer Natriumkanäle führt. Der Schwellenwert und auch die
Schnelligkeit, mit der ein Aktionspotential entsteht, variieren dabei von Zelle
zu Zelle - für eine einzelne Zelle sind diese Parameter aber durch die
Eigenschaften ihrer Natriumkanäle weitgehend
festgelegt.
Aktionspotentiale setzen sprunghaft ein
Die Forscher
haben nun die Schnelligkeit und den Schwellenwert von Aktionspotentialen in
Nervenzellen der Großhirnrinde des Säugergehirns genauer untersucht. Sie konnten
zeigen, dass hier Aktionspotentiale sehr sprunghaft einsetzen. Obwohl ein
einzelnes Aktionspotential gut eine Millisekunde andauert, setzt ein starker
Natriumeinstrom bereits in den ersten 200 Mikrosekunden ein. Die Natriumkanäle
scheinen sich demnach fast gleichzeitig zu öffnen, so dass Natriumionen sehr
schnell und in großen Mengen in die Zelle strömen können. Gleichzeitig aber
fanden die Forscher in ihren Messungen, dass die Schwellenwerte, bei denen die
Aktionspotentiale einsetzten, sehr variabel sind.
"Kooperative" Kanäle
passen nicht ins Modell
Um zu verstehen wodurch dieses ungewöhnliche
Verhalten zustande kommt, versuchten sie zunächst, das Verhalten der Zellen in
Computersimulationen des Hodgkin-Huxley-Modells nachzubilden. Dabei stellte sich
zu ihrer Überraschung heraus, dass eine hohe Variabilität beim Schwellenwert und
ein sprunghafter Anstieg des Aktionspotentials im Rahmen dieses Modells
unvereinbar sind. Um das beobachtete Verhalten der Nervenzellen dennoch in
Computersimulationen nachbilden zu können, postulierten die Forscher einen neuen
Mechanismus, der erklärt, wie sich Natriumkanäle zwar nicht immer bei dem
gleichen Schwellenwert, aber dennoch fast synchron öffnen. Öffnet sich ein
Natriumkanal, so beeinflusst das nach dem neuen Modell andere Natriumkanäle in
der direkten Nachbarschaft - die Kanäle öffnen "kooperativ" und nicht, wie nach
Hodgkin-Huxley, unabhängig voneinander ausschließlich in Abhängigkeit von der
Spannung über der Membran. Um diese Hypothese zu testen, nutzten die
Wissenschaftler einen Trick: Sie blockierten mit Tetrodoxin, dem Nervengift des
japanischen Kugelfisches, einen Teil der Natriumkanäle, so dass die noch
funktionsfähigen Kanäle so weit in der Membran verstreut lagen, dass sie nicht
mehr kooperieren konnten. "Die in solchen Experimenten beobachteten
Aktionspotentiale wiesen wie erwartet eine langsamere, mit dem
Hodgkin-Huxley-Modell vereinbare Dynamik auf", so Maxim Volgushev.
Nur
schnelle Signale werden weitergegeben
In weiteren Untersuchungen konnten
die Forscher zeigen, dass die Zellen diesen neuartigen Mechanismus verwenden
können, um zwischen den empfangenen Signalen zu differenzieren und nur auf
bestimmte zu antworten. "Die Zellen funktionieren wie ein Hochpassfilter", fasst
Bjoern Naundorf die Ergebnisse zusammen, "schnelle Signale werden gut
weitergeleitet, langsame werden unterdrückt." Die beiden Aspekte der
Aktionspotentialauslösung spielen dabei unterschiedliche Rollen. Die große
Variabilität der Schwellenpotentiale ermöglicht es den Zellen, langsam
einsetzende Reize zu ignorieren. Sie erhöhen dann fortlaufend ihre Schwelle, so
dass in vielen Fällen gar kein Impuls ausgelöst wird. Die schnelle Auslösung der
Aktionspotentiale dagegen hilft den Zellen, schnell veränderliche Signale auch
mit hoher Präzision weiterzugeben. Nach dem Hodgkin-Huxley-Modell wären sie
hierzu gar nicht in der Lage.
Altes Modell muss angepasst
werden
"Viele Wissenschaftler - uns eingeschlossen - sahen das
Hodgkin-Huxley-Modell bislang gar nicht mehr als Hypothese an, sondern glaubten,
dass es im Prinzip auf alle Neurone anwendbar ist", sagt Fred Wolf, der die
Untersuchungen am Göttinger Max-Planck-Institut für Dynamik und
Selbstorganisation leitete. Dem ist nicht so: Die bessere Hirnleistung von
höheren Tieren wie Katzen oder auch Menschen gegenüber Tintenfischen oder
Schnecken ist nach diesen Ergebnissen nicht nur auf die höhere Zahl der Neurone
in den Gehirnen dieser Tiere zurückzuführen, sondern eben auch auf die Art und
Weise, wie die Neurone Signale verarbeiten. Vermutlich nutzen sie dafür
molekulare Mechanismen, die niederen Tieren nicht zur Verfügung
stehen.
Funktion von neuronalen Systemen verstehen
"Diese
Ergebnisse bringen neue Perspektiven in unsere Vorstellungen über die Funktion
von Neuronen und neuronalen Systemen, und stellen damit ein breites Spektrum an
offenen Fragen in unterschiedlichsten Bereichen der Neurowissenschaften", so
Maxim Volgushev. Auf welcher Stufe in der Evolution treten diese Besonderheiten
von Aktionspotentialen auf? Sind sie in allen Neuronen von Säugetieren
vorhanden? Was sind die molekularen Mechanismen der Kanalkooperativität, und wie
wird ihre Entstehung in der Entwicklung sichergestellt? Welche weiterreichenden
Konsequenzen für die Informationsverarbeitung in neuronalen Netzwerken sind
damit verbunden und wie kritisch sind sie für die erfolgreiche Ausführung von
allgemeinen Funktionen des Nervensystems? "Die Aufklärung dieser Fragen wird
unser Verständnis des Nervensystems weiterbringen", schätzt Volgushev.
Quelle: Pressemitteilung Informationsdienst Wissenschaft e.V.