Nesthäkchen sind weniger innig mit Mutter und Vater und labiler
Archivmeldung vom 04.07.2018
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Freigeschaltet durch Manuel SchmidtKinder mit älteren Geschwistern haben häufig eine weniger enge Beziehung zu ihren Eltern. Zudem sind sie emotional labiler und furchtsamer. Zu diesem Ergebnis kommt eine Analyse des Forschungszentrums Demografischer Wandel (FZDW) an der Frankfurt University of Applied Sciences (Frankfurt UAS).
Die Wissenschaftler/-innen werteten dafür Daten aus, die sie im Rahmen einer Längsschnittstudie erhoben haben. Die Frage, ob und inwieweit die Stellung in der Geburtenfolge Einfluss auf die Persönlichkeit des Kindes und seine Beziehung zu den Eltern nimmt, beschäftigt die Psychologie seit fast 100 Jahren. Die Annahmen fallen dabei unterschiedlich aus: Mal sind es Einzelkinder und Nesthäkchen, deren Persönlichkeitsentwicklung angeblich darunter leidet, dass sie als Kind verhätschelt wurden. Mal sind es die sogenannten Sandwichkinder, denen eine problematische Entwicklung vorhergesagt wird, da sie vermeintlich von ihren Eltern nicht genügend Aufmerksamkeit erhielten. Auch gibt es die These, wonach Erstgeborene tendenziell konservativer, Zweitgeborene dagegen rebellischer sind. Der gegenwärtige Stand der Forschung geht allerdings davon aus, dass die Geburtenfolge keinen spürbaren Einfluss auf die Persönlichkeit nimmt. Dies konnte das Team des Forschungszentrums jetzt durch seine Analyse in Teilen widerlegen.
„Wir wollten uns das Thema einmal näher anschauen, schließlich haben wir hierfür eine ideale Datenbasis“, erläutert der Direktor des FZDW und Studienleiter Prof. Dr. Andreas Klocke und verweist damit auf die Längsschnittstudie „Gesundheitsverhalten und Unfallgeschehen im Schulalter“ (GUS), eine der größten Kinder- und Jugendstudien in Deutschland, die von der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) gefördert wird. Darin befragen die Frankfurter Wissenschaftler/-innen jährlich rund 10.000 Schüler/-innen an circa 150 weiterführenden Schulen in 14 Bundesländern. In jeder Erhebungswelle sollten die Teilnehmenden auch angeben, wie viele jüngere und ältere Geschwister sie haben. Die Forscher/-innen richteten den Blick besonders auf die dritte Erhebungswelle im Schuljahr 2016/17, da in diesem Befragungszyklus auch die Persönlichkeitseigenschaften von Siebtklässlerinnen und -klässlern erfasst wurden.
„Wir haben uns alle Konstellationen angeschaut, in denen die Kinder angaben, bis zu zwei Geschwister zu haben“, erläutert Dr. Sven Stadtmüller. Der wissenschaftliche Mitarbeiter des FZDW hat die Analysen durchgeführt. Es wurden verschiedene Gruppen gebildet: Einzelkinder, Kinder mit einem jüngeren und Kinder mit einem älteren Geschwisterkind. Hinzu kamen drei weitere Gruppen für Kinder mit zwei Geschwistern: Schüler/-innen mit zwei jüngeren Geschwistern, Sandwichkinder (mit einem jüngeren und einem älteren Geschwisterkind) und Nesthäkchen (Kinder mit zwei älteren Geschwistern). Alle sechs Gruppen bestehen aus mindestens 700 Kindern, so dass die Ergebnisse laut Stadtmüller in hohem Maße zuverlässig sind.
Zunächst interessierte das Forschungsteam, ob die Beziehung zu den Eltern für Kinder mit unterschiedlicher Stellung in der Geburtenfolge verschieden ausfällt. Die Eltern-Kind-Beziehung wurde dabei vereinfacht als „sehr gut“ aufgefasst, wenn das Kind angab, dass es ihm sowohl mit der Mutter (oder der Stiefmutter) als auch mit dem Vater (oder dem Stiefvater) sehr leicht falle, über wichtige persönliche Dinge zu sprechen. Insgesamt trifft dies auf gut ein Fünftel der Schulkinder (21,9 Prozent) zu. Allerdings sind deutliche Unterschiede je nach Stellung in der Geburtenfolge erkennbar: Demnach fällt dieser Wert für Einzelkinder (24,9 Prozent), aber auch für die älteren bzw. ältesten Geschwisterkinder (24,0 bzw. 23,3 Prozent) besonders hoch aus. Umgekehrt verhält es sich für Kinder mit nur einem älteren Geschwisterteil (20,0 Prozent) und mit den Sandwichkindern (20,3 Prozent). Letzteres überrascht nur bedingt, wird Sandwichkindern doch häufiger nachgesagt, sie erhielten von ihren Eltern zu wenig Aufmerksamkeit, was ihrer Beziehung zu den Eltern abträglich sein könnte. Weitaus überraschender ist hingegen der Wert für die Nesthäkchen: Er fällt mit 18,2 Prozent am geringsten aus. „Das ist schon erstaunlich, wird doch gerade bei diesen Kindern davon ausgegangen, dass sie die größte elterliche Aufmerksamkeit erfahren“, so Stadtmüller. Die Unterschiede zwischen den Konstellationen mit und ohne ältere Geschwisterkinder sind dabei durchweg statistisch signifikant. Es handelt sich also mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nicht um zufällige sondern systematische Unterschiede.
Nimmt die Stellung in der Geburtenfolge auch Einfluss auf die Persönlichkeit der Kinder? Zur Messung von Persönlichkeitseigenschaften griff das FZDW-Team auf das sogenannte Big Five-Inventar in einer speziellen, für Kinder und Jugendliche adaptierten Version zurück. Die Big Five gehen davon aus, dass sich die Persönlichkeit eines Menschen zentral mit fünf Merkmalen charakterisieren lässt: Neben Extraversion und Gewissenhaftigkeit sind dies Verträglichkeit, Offenheit für Erfahrung und Neurotizismus. Jedes dieser Persönlichkeitsmerkmale wurde gemessen, indem die Kinder sich selbst auf der Basis von drei Aussagen einschätzen sollten. So gilt ein Schulkind beispielsweise als gewissenhaft, wenn es bei den Aussagen „Ich bin jemand, der gründlich arbeitet“ und „Ich bin jemand, der Aufgaben wirksam und effizient erledigt“ mit „trifft eher zu“ oder mit „trifft voll und ganz zu“ antwortet. Gleichzeitig muss es bei der Aussage „Ich bin jemand, der eher faul ist“ mit „trifft überhaupt nicht zu“ oder „trifft eher nicht zu“ antworten, um eine hohe Ausprägung bei dieser Persönlichkeitseigenschaft aufzuweisen.
Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Stellung in der Geburtenfolge tatsächlich Einfluss auf die Persönlichkeit nimmt, wenngleich ihre Prägekraft nur begrenzt ausfällt. Zudem zeigen sich, ähnlich wie bei der Eltern-Kind-Beziehung, vergleichbare Unterschiede zwischen den Konstellationen der Geburtenfolge: So weisen Kinder mit älteren Geschwistern den Persönlichkeitszug „Verträglichkeit“ zu signifikant geringeren Anteilen auf als Einzelkinder oder Kinder mit einem oder mehreren jüngeren Geschwistern. Auch beim Wesenszug „Offenheit für Erfahrung“ zeigt sich diese Trennlinie: Einzelkinder und Kinder mit mindestens einem jüngeren Geschwisterkind haben häufiger neue und originelle Ideen und eine lebhafte Fantasie. Ganz besonders ragen erneut die Nesthäkchen heraus. Bei der Gewissenhaftigkeit und der Offenheit für Erfahrung verbuchen diese die geringsten Anteile, beim Persönlichkeitsmerkmal Neurotizismus dagegen die höchsten. Sie werden also schneller nervös, können schlechter mit Stress umgehen und machen sich häufiger Sorgen als Kinder aus allen anderen Konstellationen der Geburtenfolge.
Bei den zentralen Zielgrößen der GUS-Studie, nämlich bei Unfällen und Verletzungen im Schulalter sowie beim Gesundheitsverhalten zeigen sich dagegen keine nennenswerten Unterschiede zwischen den verschiedenen Konstellationen.
Quelle: Frankfurt University of Applied Sciences (idw)