Loveparade-Tote: Massenpanik als Auslöser fraglich
Archivmeldung vom 29.07.2010
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 29.07.2010 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Thorsten SchmittMassenpanik war nicht der wichtigste Auslöser der Duisburger Loveparade-Katastrophe. Zu diesem Schluss kommen Panikforscher in ihrer Analyse des Ereignisses, das 21 Tote und 510 Verletzte forderte. "Strittig ist besonders, ob sich Individuen in solchen Situation tatsächlich irrational oder unsozial verhalten. Ich vermute, dass das Gedränge maßgeblich war und nicht Panikattacken", berichtet der Soziologe Dirk Helbing von der ETH Zürich auf pressetext-Anfrage. Gewissheit wird allerdings erst die genaue Faktenaufarbeitung bringen.
Besser als von Massenpanik sollte man von Massenturbulenzen, sogenannten "Crowd Disasters" reden, fordert Helbing. "Solche Turbulenzen können auftreten, wenn Menschen eingeklemmt sind. Dabei entstehen in der Menge erdbebenartige Schockwellen, die das Stehenbleiben erschweren. Der Einzelne verliert jede Kontrolle und wird nurmehr hin- und hergeworfen," so Helbing.
Kommt jemand in dieser Situation zu Fall, sei fast unvermeidbar, dass sich die Menge darüberwälzt. "Niemand trampelt andere aus Übermut oder Unachtsamkeit nieder", so der Experte weiter. Ob panische Angst ursächlich im Spiel ist, sei nicht eindeutig gesichert.
Hinweise für solche Schockwellen glaubt Helbing auf YouTube-Videos
vom Ereignis zu erkennen. "Leute bewegen sich nicht wesentlich von der
Stelle - wenigstens nicht fluchtartig. Sie befinden sich in einer
verzweifelten Lage", so der Experte. Typisch für die Crowd Disasters sei
das Zusammentreffen mehrerer Faktoren. "Wesentlich sind dabei die
Engstelle und das zu hohe Besucheraufkommen mit größerem Zufluss als
Abfluss, was die Dichte der Menschenmenge steigen lässt." Ein dritter
Faktor, der nicht immer im Spiel ist, sind Auslöser von
Kettenreaktionen.
Trennung von Zu- und Abfluss fehlte
Fehler gab es in Duisburg vor allem in der Vorbereitung des Events, so der Experte. Denn sobald einmal ein Crowd Disaster ausgelöst ist, können Eingriffe der Helfer ergebnislos oder sogar kontraproduktiv sein. "Vor allem dürfen sich Sicherheitskonzepte nicht an der Geländekapazität orientieren, sondern müssen die erwarteten Teilnehmerzahl als Grundlage nehmen." So verabsäumte man etwa, die wartenden und abgewiesenen Besucher, die eine lange Anreise hinter sich hatten, abseits des Events zu unterhalten.
Wohl am meisten wurde in dieser Woche die Engstelle des
Zugangstunnels zum Festgelände kritisiert, an dessen Ausgängen es zu den
Todesfällen kam. Viel zu wenig wurde geprüft, ob der Tunnel den Ansturm
überhaupt bewältigen kann. "Dabei hätte man berücksichtigen müssen,
dass hohe Dichte und entgegengesetzte Strömungen die Kapazität
reduzieren. Die Trennung von Zu- und Abfluss wäre wichtig gewesen", so
Helbing. Die Tunnelzufuhren hätten zudem maximal so breit sein dürfen
wie der Tunnel selbst, außerdem fehlte es an Entlastungswegen.
Mekka kommt auch mit Millionen zurecht
Rechtzeitige Modellierungen am Computer hätten die Duisburger Katastrophe weitgehend verhindern können, sagt der Experte. "Unsicherheit in Parametern versucht man durch verschiedene Szenarien auszugleichen. Aus Kosten- und Zeitgründen werden aber leider oft nur wenige Szenarien in Auftrag gegeben", so der Forscher. Grundsätzlich müssen Massenevents so organisiert sein, dass sie auch bei Zwischenfällen unter Kontrolle bleiben, betont Helbing.
Gut gelöst habe man dies hingegen - nach ähnlichen Zwischenfällen - nun für die Pilgeranstürme in Mekka. "Man baute eine neue, größere Brücke, mehr Ein- und Ausgänge und trennte Zu- und Abflüsse. Weiters geben Videoüberwachung und die Messung der Zu- und Abströme den Überblick, wie nahe das Kapazitätslimit ist. Ist dieses erreicht, kommen Pläne zur Belastungsverteilung oder Ableitung der Massen zum Einsatz." Hilfreich sind auch der fixe Zeitplan für Pilger sowie Broschüren und elektronische Informationssysteme, die das Verhalten des Einzelnen beeinflussen.
Quelle: pressetext.schweiz Johannes Pernsteiner