Teufelstreppe erklärt Wachstumsprozesse in Netzwerken
Archivmeldung vom 01.09.2012
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittDass sich ein Netzwerk - sei es ein Freundeskreis, ein Computernetzwerk oder die Nervenzellen des Gehirns - durch das Hinzufügen von einigen wenigen Verbindungen dramatisch vergrößern kann, war wohlbekannt. Unklar blieb der Zusammenhang zwischen langsamen und abrupten Wachstumsschüben.
Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Dynamik und Selbstorganisation (MPIDS) und der Universität Göttingen erklären diesen Zusammenhang mit der Entdeckung einer Teufelstreppe, die sowohl sprunghaftes, als auch allmähliches Wachstum vereinigt. Die Ergebnisse dieser theoretischen Studie wurden jetzt in der Fachzeitschrift Physical Review X veröffentlicht.
Oft geht es schlagartig vor sich: Ein Online-Filmchen einer Klavier spielenden Katze kann innerhalb von Stunden Kultstatus erreichten; eine Grippeepidemie kann urplötzlich auf weite Bevölkerungsteile übergreifen; oder der Aufbau eines Bekanntenkreises nach dem Umzug in eine neue Stadt kann sich auf einmal sprunghaft beschleunigen. In all diesen Beispielen benachrichtigt, infiziert oder trifft eine Person nach und nach andere, und auf eine ruhige Anfangszeit folgt unvermittelt eine Phase, während der sich der Kreis der Beteiligten plötzlich sehr schnell vergrößert. Die Göttinger Forscher haben nun untersucht, welche Arten solcher plötzlichen Übergänge möglich sind.
Wissenschaftler untersuchen Prozesse wie das Verbreiten von Ideen, Viren oder Signalen im Rahmen der so genannten Netzwerktheorie. Die Personen, Computer und anderen Einheiten, die miteinander in Kontakt treten können, werden als Punkte (so genannte Knoten) dargestellt. Wenn ein Kontakt zwischen zwei Knoten zustande kommt, werden diese durch eine Linie verbunden. Dadurch entstehen komplexe Netzwerkstrukturen, die sich meistens unabhängig von der Bedeutung der Knoten untersuchen lassen.
Solche Modelle erlauben es unter anderem, Wachstumsprozesse zu erforschen. Im einfachsten Fall geht man von einer großen Anzahl isolierter Knoten aus. Wenn nun in dieser losen Ansammlung zufällig Knoten herausgegriffen und zu Paaren verbunden werden, bilden sich allmählich Gruppen von Knoten, die mehrere Knoten umfassen. Anfänglich besteht das System aus vielen separaten Gruppen, die etwa gleich groß sind. Das Verhalten verändert sich jedoch dramatisch, sobald eine kritische Anzahl von Verbindungen eingebracht wurde. Dann wächst plötzlich eine dominante Gruppe heran, die sich schnell vergrößert und schließlich das ganze System beherrscht.
Ein solcher Wechsel von langsamem zu schnellem Wachstum wird als „Phasenübergang“ bezeichnet. „Das Verhalten von Netzwerken mit langsamen Übergängen lässt sich kontrollieren, zumindest im Prinzip. In Netzwerken mit plötzlichen Übergängen ist dies aber praktisch unmöglich, da dann zu wenig Zeit bleibt, in das System einzugreifen, um etwa das Ausbreiten einer Epidemie einzudämmen. Die Dynamik lässt sich dann weder voraussagen, noch kontrollieren,“ erklärt Nagler. Deswegen ist die Frage, ob der Übergang abrupt - also sprunghaft - oder allmählich und kontinuierlich ist, zentral bei der Erforschung des Wachstums von Netzwerken.
Das Göttinger Forscherteam untersuchte ein Modell, in dem das Hinzufügen neuer Verbindungen nicht mehr rein zufällig geschieht, sondern in dem sich bevorzugt gleichartige Gruppen gemäß bestimmter Regeln vernetzen. Dies ist etwa in alltäglichen Netzwerken üblich. Freundeskreise zum Beispiel wachsen bekanntlich alles andere als zufällig, sondern bevorzugen Kontakte mit Gleichgesinnten. „Anders als bisher angenommen kann in solchen Netzwerken die Expansion auch abrupt sein“, sagt nun Jan Nagler, der an der Universität Göttingen und am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation forscht.
Nagler erklärt weiter: „Kontinuierliche Phasenübergänge können sich in Wirklichkeit aus winzigen Sprüngen zusammensetzen.“ Dieses scheinbare Paradoxon erklären die Wissenschaftler mit der Entdeckung eines Phasenübergangs in Form einer Teufelstreppe: Die Stufen dieser Treppe werden immer kleiner, bis sie schließlich zu einer geraden Linie werden (siehe Abbildung 1). Damit weisen die Forscher nach, dass die Expansion eines Netzwerks - egal ob dies nun soziale Netzwerke, Computernetzwerke oder Netzwerke infektiöser Kontakte sind - sprunghaft und damit praktisch unkontrollierbar sein kann.
Quelle: Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation (idw)