Langzeitvergleich: Stress und Volatilität an den Finanzmärkten heute weitaus niedriger als 2008
Archivmeldung vom 15.09.2018
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Freigeschaltet durch Manuel SchmidtNicht wenige Experten warnen vor einer neuen Finanzkrise. Doch die Situation heute ist nicht mit der vor zehn Jahren vergleichbar, der „Stress“ an den Finanzmärkten ist weitaus niedriger. Das zeigt ein vom Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung entwickelter Frühwarnindikator. Allerdings könnte sich das wieder ändern – auch, weil Sicherheitsregeln in Frage gestellt werden.
Vor zehn Jahren ging die Investmentbank Lehman Brothers pleite. Es war der Beginn der größten Finanz- und Wirtschaftskrise seit den 1930er-Jahren. Wie groß ist die Gefahr, dass sich eine solche Krise wiederholt? Und sind Ökonomen heute – anders als vor zehn Jahren – in der Lage, einen Crash besser vorherzusagen? Das IMK hat einen Indikator entwickelt, der Verunsicherung und Volatilität, kurz den „Stress“ an den Finanzmärkten misst – und damit als Frühwarnsystem für aufkommende Gefahren dient.
Verglichen mit den Monaten vor der Lehman-Pleite sendet der Indikator aktuell keine beunruhigenden Signale: Trotz der von den USA geführten Handelskonflikte pendelt das Stressniveau derzeit auf einer Skala von 0 bis 1 um einen Wert von 0,2. Dagegen lag es bereits im Winter 2007/2008 bei etwa 0,4 und stieg dann rasch an. Nach Ansicht der IMK-Experten zeigt das: Die von Politik, Zentralbanken und Regulierungsbehörden nach der Finanzkrise ergriffenen Maßnahmen haben die Märkte sicherer gemacht. Allerdings ist die Regulierung noch nicht vollständig umgesetzt worden, in den USA wird sie teilweise sogar wieder zurückgenommen. Und in Europa kommt der Aufbau eines sicheren Finanzsystems nur schleppend voran. „Es besteht also auch zehn Jahre nach der Krise kein Anlass, sorglos zu werden“, schreiben die Ökonomen Prof. Dr. Gustav A. Horn und Dr. Thomas Theobald.
Auch unter Volkswirten hat die Lehman-Pleite zu einem Umdenken geführt. Es wurden nicht nur gängige Theorien der Finanzmärkte und der Makroökonomie hinterfragt, es brauchte neue Instrumente, die Krisen möglichst frühzeitig anzeigen können. Vor diesem Hintergrund entwickelte das IMK seinen Stressindikator. Dieser fasst 30 verschieden gewichtete Zeitreihen von Finanzmarktdaten zusammen wie zum Beispiel Aktienkurse, Immobilienpreise sowie Risikoprämien von Anleihen oder Kreditausfallversicherungen. Jede einzelne dieser Variablen sei zwar für sich genommen von begrenzter Aussagekraft, schreiben die IMK-Ökonomen. Gebündelt ließen sich daraus jedoch „belastbare Aussagen für die Wahrscheinlichkeit von Finanzmarktkrisen gewinnen“. In den IMK-Finanzmarktstressindikator fließen Echtzeitdaten ein, sodass er stets ein aktuelles Bild der Lage an den Märkten darstellt. Mithilfe zurückliegender Daten ist es auch möglich, den Stressindikator für frühere Jahre zu berechnen und so in die Vergangenheit zu blicken.
Im Rückblick fällt auf: Bereits für November 2007 zeigt der IMK-Stressindikator einen Ausschlag nach oben. „Man hätte zu jenem Zeitpunkt, wäre der Indikator seinerzeit verfügbar gewesen, zumindest größere Probleme erwarten, wenn auch noch nicht deren volles Ausmaß erfassen können“, so die Forscher. Spätestens ab Februar 2008 hätte sich dann der drohende Crash deutlich abgezeichnet. Den vorläufigen Höchststand erreichte der Stressindikator im September, dem Monat der Lehman-Pleite.
Verglichen damit befinden sich die Finanzmärkte heute „in sehr ruhigem Fahrwasser“. Es gibt keinerlei Anzeichen für erhöhten Stress. „Dies ist jedoch kein Grund für eine generelle Entwarnung. Schließlich fokussiert sich der Indikator stark auf den aktuellen Rand und nicht auf die längere Perspektive“, schreiben die Ökonomen. Es sei nicht ausgeschlossen, dass bisher unbemerkt neue Gefahren entstehen. Sollten sich daraus erste Anzeichen für Unruhe an den Finanzmärkten entwickeln, wird man diese am IMK-Stressindikator ablesen können. Er kann jederzeit wieder ausschlagen.
Quelle: Hans-Böckler-Stiftung (idw)