Interview mit Prof. Dr. Wolfgang Gerke zur Finanz- und Wirtschaftskrise
Archivmeldung vom 24.12.2008
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 24.12.2008 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Thorsten SchmittDie Große Koalition streitet derzeit über den Inhalt des zweiten Konjunkturpaketes, mit dem die schlimmsten Auswirkungen der weltweiten Wirtschaftskrise abgefedert werden.
Eine Krise, die in den USA entstand und durch einen ,,gravierenden Fehler" noch vergrößert wurde, sagte der Bankenexperte Prof. Dr. Wolfgang Gerke im Gespräch mit der Landeszeitung Lüneburg. Denn, so Gerke, die USA ließen die angeschlagene Traditionsbank Lehman Brothers in die Insolvenz rutschen.
Herr Prof. Gerke, Sie gehörten zu den ersten, die im Zuge der US-Immobilienkrise vor einem Flächenbrand gewarnt hatten. Vor einem Jahr widersprachen Sie der Ansicht des Deutsche-Bank-Chefs Josef Ackermann, dass die Finanzkrise bald ausgestanden sei und warnten vor einem schweren Jahr 2008. Hat Sie nun das extreme Ausmaß der Krise im Nachhinein überrascht? Prof. Dr. Wolfgang Gerke: Mich hat nicht überrascht, dass die Krise auf die Realwirtschaft übergegriffen hat, denn genau das war meine Befürchtung. Anders als Finanzkrisen wie etwa 1987 ist diese Krise aber von so fundamentaler Natur, dass die gesamte Wirtschaft weltweit betroffen ist. Dieses Ausmaß hatte ich nicht erwartet. Ich glaube, dass ein ganz gravierender Fehler der Amerikaner für die Ausweitung der Krise verantwortlich ist: Sie haben Lehman Brothers in Insolvenz geraten lassen in der Annahme, auf diese Art und Weise könnte man Europa und Asien an der Finanzierung der Rettungsaktionen für US-Finanzinstitutionen beteiligen. Schließlich hatte Lehman Brothers viele Verbindlichkeiten außerhalb der USA. Aber die Folgen des Zusammenbruchs von Lehman Brothers für die Weltwirtschaft sind so gravierend, das Vertrauen ist so grundlegend verloren gegangen, dass auch die Amerikaner viel mehr Geld für die Banken-Rettungsschirme zur Verfügung stellen müssen als sonst nötig gewesen wäre.
Kann man insofern von einem Versuch des Exports der Schulden seitens der USA sprechen? Gerke: Ja, dieser Versuch wurde schon vorher gemacht, das war der Auslöser der Krise. Wir schimpfen zwar nicht zu Unrecht über die Gier der Banken. Aber die Basis der Finanzkrise legte die US-Regierung mit ihrer gewaltigen Verschuldungspolitik und insbesondere die US-Notenbank mit ihrer Zinspolitik. Über einen längeren Zeitraum lagen die Zinsen deutlich unterhalb der Inflationsrate. Dies animierte die US-Investmentbanker, mit dem billigen Geld ein Schneeballsys"tem zu installieren. Das Geld wurde in Immobilien investiert, die man verbriefte und dann das neu gewonnene Geld wieder kreditwürdigen Immobiliennehmern zuführte.
Geld fast zum Nulltarif gab es 2002/2003, dies gilt als Mitverursacher der US-Immobilienkrise. Nun bietet die US-Notenbank wieder Geld zum Nulltarif an. Steht zu befürchten, dass das gleiche Spiel wieder von vorne beginnt? Gerke: Ja, das ist zu befürchten. Ich glaube, dass das Spiel sogar in kürzeren Abständen beginnen wird. Einerseits ist das eine frohe Botschaft, denn es bedeutet ja auch, das erst einmal wieder eine Euphorie kommen wird. Auf der anderen Seite besteht die große Gefahr, dass dann wieder nicht gegengesteuert wird. Dennoch ist das Vorgehen der US-Notenbank derzeit nicht unbedingt ein Fehler, denn sie versucht, eine länger anhaltende Rezession, die auch die Kreditkartenunternehmen in große Schwierigkeiten bringen würde, zu verhindern. Aber -- wie gesagt -- es besteht die Gefahr, dass nicht rechtzeitig gegengesteuert wird.
Ist es ein Fehler, die Stellschraube Zinspolitik aus der Hand zu geben? Gerke: Das wäre angesichts der Alternativen, die es derzeit gibt, eine überzogene Kritik. Zwar hat die US-Notenbank ihr Zinspulver verschossen, aber sie hat natürlich noch andere Möglichkeiten wie den Aufkauf notleidender Engagements. Dennoch wird die Fed nicht in der Lage sein, sich voll gegen die Rezession zu stemmen. Es ist aber richtig, dass man versucht, sie abzuschwächen.
Wird die EZB angesichts des starken Euro und der sinkenden Inflationsrate gezwungen sein, die Zinsen in Richtung ein Prozent zu senken? Gerke: Die EZB hat durch sinkende Rohstoffpreise und schnell nachlassenden Inflationsdruck auf dem Markt Spielraum bekommen. Sie kann und sollte -- auch angesichts der niedrigen Zinsen in den USA --die nächsten Zinssenkungsschritte einleiten.
Die Rettungsschirme für die Banken sind längst aufgespannt. Derzeit haben Konjunkturpakete zur Eindämmung der Krise Hochkonjunktur. Kommt da nicht die Bekämpfung der Ursache der Krise zu kurz? Gerke: Es mag sein, dass die Ursachenbekämpfung derzeit zu kurz kommt. Das ist aber nicht dramatisch. Denn zur Ursachenbekämpfung hat man auch in den kommenden Monaten Zeit, kann sich grundlegend von Experten beraten lassen, wie man die Finanzwirtschaft und die Notenbank-Politik weltweit neu organisieren soll und wie man insbesondere die Aufsicht international anders gestalten muss und soll. Wichtig ist, dass man im Moment nicht tatenlos zuschaut, wie Kreditinstitute in die Insolvenz geraten und wie die Wirtschaft in eine tiefe Rezession hineingerät. Hier ist schnelles Handeln notwendig. Dabei muss man sich aber immer vor Augen führen, dass viele der Maßnahmen, die man ergreift, zu Lasten der nächsten Generationen gehen und insofern gute Investments darstellen müssen. Ich bin kein Anhänger von Einzelmaßnahmen -- wie etwa steuerliche Vergünstigungen für schadstoffarme Neuwagen. Ich bin dafür, generell die Mehrwertsteuer zu senken und damit allen Bürgern einen Anreiz zu geben. Denn Waren und Dienstleistungen muss jeder kaufen. Gegebenenfalls kann man auch den Solidaritätszuschlag abschaffen. Diese Maßnahmen sind längerfristig vernünftig und sinnvoller, als das Steuersystem immer komplexer zu machen. Hier befinde ich mich im Widerspruch zur aktuellen Politik der Bundesregierung.
Die Bundesregierung will gerade mit dem Konjunkturpaket II in die Infrastruktur investieren... Gerke: Soweit es Zukunftsinvestments sind, die man vorziehen kann, ist es sicherlich vertretbar. Das entbindet aber nicht von der Verantwortung für das völlig missratene deutsche Steuersystem und die sehr hohe Belastung der Bürger. Wenn man jetzt die Sozialbeiträge und die Mehrwertsteuer senken kann, erreicht man in jedem Fall nicht nur kurz- sondern auch mittelfristig vernünftigere Strukturen als wir sie zurzeit haben.
Belegt der Milliarden-Betrugsfall des Ex-NASDAQ-Chefs Bernard Madoff, dass viele aus den Fehlern nichts gelernt haben? Gerke: Madoff hat offenbar schon Jahre vor der Krise mit enormer krimineller Energie sein Schneeballsystem installiert. Es ist erschreckend, dass jemand, der eine so wichtige Funktion an der Börse hatte, nicht über eine höhere Moral verfügt. Noch bedenklicher ist, dass die sonst auch von deutschen Firmen so gefürchtete US-Börsenaufsicht SEC Herrn Madoff nicht früher auf die Schliche gekommen ist. Da haben die Amerikaner noch eine Menge Hausaufgaben zu erledigen.
Eigentlich sollte es doch generell auffällig sein, wenn jemand hohe Renditen verspricht. Gerke: Ja, dann sollte man immer hellhörig werden. Denn hohe Renditen sind nur mit hohen Risiken zu erzielen. Genau das haben auch die Investmentbanken gemacht.
Sollte der Staat dann nicht Finanzprodukte, die hohe Renditen verheißen, besser gleich untersagen? Gerke: Nein, es wäre völlig verkehrt, jetzt Risiken zu verbieten. Dann würde man letztlich auch Innovationen verbieten -- etwa bei Investitionen in risikoreiche Forschung. Es ist allerdings ganz wichtig, dass man diejenigen, die im Finanzbereich hohe Risiken mit Geldern anderer eingehen, vorschreibt, genügend Haftungskapital vorzuhalten und Aufsichtsbehörden gegenüber Bücher transparent zu führen. Das halte ich nicht nur für Investmentbanken, Versicherungen und traditionelle Banken für erforderlich, sondern vor allem auch für Hedge-Fonds und Private-Equity-Firmen.
In Deutschland gehen Privatbanken und Sparkassen von einem für sie guten Jahr 2009 aus. Gehen die Banken also wieder als Gewinner aus einer Wirtschaftskrise hervor? Gerke: Die Banken, die ein tragfähiges -- andere würden sagen langweiliges -- Geschäftsmodell haben wie zahlreiche Regionalbanken, Genossenschaftsbanken und Sparkassen, haben bewiesen, dass sie wesentlich krisenfester sind als Banken, die hochspekulativ im Markt sind. Sie haben auch bewiesen, dass sie die von ihnen mitgetragenen Landesbanken zum Teil gar nicht brauchen. Genossenschaftsbanken und Sparkassen haben sich also glänzend bewährt, was man von den Landesbanken nicht behaupten kann. Bei den Landesbanken ist eine Strukturreform überfällig. Aber hier sträuben sich noch die einzelnen Landesregierungen in unverantwortlicher Form.
Kann das deutsche Drei-Säulen-Prinzip als Blaupause für andere Staaten dienen? Gerke: Das müssen die anderen Staaten selbst entscheiden. Auf keinen Fall aber sollten sie das mit dem Drei-Säulen-Prinzip verbundene System der Landesbanken übernehmen.
Wann rechnen Sie mit einem Ende der Finanz- und Wirtschaftskrise? Gerke: Die größten Auswirkungen der Krise auf die Realwirtschaft werden wir erst im kommenden Jahr sehen. Dazu wird auch gehören, dass die Zahl der Arbeitslosen wieder steigt. Ich rechne erst Ende 2009 mit einem Hoffnungsschimmer für die Wirtschaft.
Das Interview führte Werner Kolbe
Quelle: Landeszeitung Lüneburg