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Im Namen der Energie: Das böse Erwachen zwischen Energiewende und Verknappung

Archivmeldung vom 02.10.2021

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 02.10.2021 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Anja Schmitt
Kraftwerk Neurath
Kraftwerk Neurath

Foto: TelepermM
Lizenz: CC BY-SA 4.0
Die Originaldatei ist hier zu finden.

Was vor zehn Monaten ausschließlich in Fachkreisen debattiert wurde, macht seit Wochen täglich Schlagzeilen, und zwar weltweit: die Preisspirale für Energie. Eine SNA-Gastautorin, Expertin für Energiepolitik und frühere österreichische Außenministerin, Dr. Karin Kneissl, macht sich Gedanken über Ursachen und Aussichten.

Beim russischen online Magazin " SNA News " ist auf der deutschen Webseite weiter zu lesen: "Egal ob sich um den Erdölmarkt handelt, wo im Frühjahr 2020 der Preis noch ins Bodenlose gefallen war und nun wieder auf die magische Grenze von 100 US-Dollar pro Fass zusteuert; oder um die Stromrechnungen, die für viele Haushalte in der EU eine Mehrbelastung von bis zu 40 Prozent bedeuten; oder eben die Sorge um den niedrigen Stand in den Erdgaslagern in vielen Staaten: alle reden über die hohen Energiepreise und die möglichen Folgen von Schließungen von Betrieben bis hin zu sozialen Unruhen. In Frankreich sitzen der Regierung unter Präsident Emmanuel Macron die Proteste der „Gelbwesten“, infolge höherer Besteuerung des Treibstoffs, noch in den Knochen. Mit Sonderzahlungen will Paris Menschen mit niedrigem Einkommen helfen. In Deutschland zahlen Haushalte und Industrie infolge der Netzgebühren ohnehin bereits besonders hohe Stromrechnungen im europäischen Vergleich.

Staunend blicken wir auf die Videos von britischen Tankstellen, wo die Menschen in Plastikbeuteln den noch verfügbaren Treibstoff hamstern. Die Regierung beklagt das Fehlen von 100.000 LKW-Fahrern, die nun die Zapfsäulen nicht beliefern. Doch es geht um ein grundsätzliches Versagen in der Energieversorgung. Die jetzigen Bilder erinnern ein wenig an den Oktober 1973, als infolge eines Erdöl-Embargos der arabischen Mitglieder der OPEC, der Organisation erdölexportierender Länder, der Preis für ein Fass Rohöl sich binnen drei Wochen vervierfachte. Waren es in den 1970er Jahren geopolitische Gründe, nämlich Konflikte im Nahen Osten, so auch 1979 die Revolution im Iran und der lange Krieg zwischen dem Irak und Iran, dreht sich nun der Erdölpreis aus zahlreichen hausgemachten Gründen nach oben.

Die vielen Ursachen

Nichts fällt einfach so vom Himmel, für alles gibt es Gründe. Und nichts war je in der Geschichte monokausal, denn die Welt ist ein wenig komplizierter als dies in Tweets oder Schlagzeilen darzustellen ist, wenn man alles auf einen Verursacher herunterbrechen möchte. Es geht nicht nur um LKW-Fahrer in Großbritannien oder gar um „russische Erpressung“, wie dies einige deutsche Medien seit Wochen kolportieren. Der russische Energiekonzern Gazprom kommt seinen vertraglichen Verpflichtungen nach. Die Frage ist vielmehr, ob russische Konzerne jenseits der aktuellen Verträge mehr Erdgas liefern sollen, wenn zeitgleich das Europäische Parlament die Abkoppelung vom russischen Energiemarkt und Sanktionen bis hin zum Ausschluss Russland aus dem Swift, also dem internationalen Zahlungsverkehr fordert. Dass die Erdgas-Pipeline Nord Stream um zwei weitere Stränge erweitert wurde, hat mit Nachfrage zu tun. Europäische Energiekonzerne beteiligten sich ab 2017 an diesem Konsortium, weil es handfeste wirtschaftliche Gründe gab und gibt. Bedauerlicherweise wurde die Pipeline von vielen EU-Staaten und allen voran den USA politisiert. Der große Vorteil von langfristigen Lieferverträgen ist die Energieversorgungssicherheit.

Letztere kommt in der aktuellen Phase der Transition also des Übergangs von einem stark fossil geprägten Zeitalter in eine Ära eines neuen Energiemix viel zu kurz. Alles dreht sich nur mehr um Emissionen und die totale Dekarbonisierung.

Hinzu tritt die wachsende Konkurrenz zwischen den Kunden. Asiatische Abnehmer zahlen oft höhere Preise als europäische Konsumenten. Die Produzenten von Flüssiggas, also LNG, können ihre Tanker kurzfristig an die bestzahlenden Destinationen umlenken und diese liegen gerade in diesen Tagen knapper Energie im Osten und nicht im Westen.

Ein wesentlicher Faktor für die aktuelle Marktsituation ist neben der teils wieder anspringenden Konjunktur, also der Nachfrage, das knappe Angebot. Und dies hat mit der fehlenden Erschließung neuer Erdöl- und Erdgasfelder zu tun. In der Branche ist von „underinvestment“ die Rede. Angesichts des massiven Drucks der Politik, des Gesetzgebers, bis hin zur Justiz, aus sämtlichen Investitionen in fossile Energieträger auszusteigen, fehlen diese weiterhin sehr zuverlässigen Energieträger. Hinzu kamen die starken Preisschwankungen seit 2008. Infolge der hohen Volatilitäten und des mehrfachen Preisverfalls, so im Herbst 2008, dann 2014 und letztlich im Frühjahr 2020, mussten vor allem internationale Energiekonzerne ihre kostenintensiven Explorationsprojekte, so im „offshore“ Sektor, auf Eis legen. Derartige Vorhaben erschienen den Aktionären unrentabel.

Die Ungewissheiten in der Übergangsphase

Es geht in der aktuellen Debatte und vor allem in der Frage, wie man mit der Energiekrise 2021/22, die im Falle eines kalten Winters noch sehr problematisch werden könnte, nicht um einen Streit der Denkschulen zum Klimawandel. Es ist eine Tatsache, dass wir uns global in der Transition befinden. Die Frage ist aber: wie sind all die Aspekte einer sicheren und leistbaren Energieversorgung mit teuren Emissionszertifikaten und teils unrealistischen Vorgaben an die Automobilindustrie umsetzbar?

Es springen nun wieder Kohlekraftwerke auch in Deutschland ein, um die Stromerzeugung infolge geringer Windstärken sicher zu stellen. Der CO2-Ausstoß steigt gerade in Deutschland heftig an, wie schon in den ersten Jahren nach der Energiewende von 2011. Der dringend gebotene Ausbau des Stromnetzes hingegen ist bislang nicht erfolgt. Nach aktuellen Berechnungen müsste das deutsche Stromnetz um 25 Prozent ausgebaut und umfassend erneuert werden. Allein die Ankündigungen reichen bis ins Frühjahr 2011 zurück, als Kanzlerin Angela Merkel sehr überraschend den Ausstieg aus der Atomkraft verkündete.

Nicht außer Acht zu lassen sind die Aspekte einer teils unvollständigen oder aber schlecht umgesetzten Liberalisierung, denn diese ist einer der vielen Gründen, warum die Versorgungssicherheit stocken könnte und warum auch in unseren Breiten die Energiearmut zum allgemeinen gesellschaftlichen Problem wird. Kleinere Energieversorger sind bereits im Konkurs, die Lieferstrecken verlängern sich, und damit steigt wiederum die Stromrechnung. In meinem Buch „Die Mobilitätswende“ (Wien 2020) widme ich dem Aspekt breiten Raum. Gingen Menschen einst auf die Straße, weil sie Hunger hatten und riefen „Gebt uns Brot“, so wächst die Gefahr von Revolten heute mit dem Verlust von Mobilität und Zugang zu Energie.

Die soziale Frage ist schon seit Jahren infolge hoher Mieten und niedriger Löhne zurück auf der politischen Bühne. Die Pandemie hat nichts verursacht, aber alle bestehenden Probleme verstärkt. Wenn es nun noch zu massiven Teuerungen kommt, dann ist der Weg nicht mehr weit zu sozialen Unruhen. Manchen Regierungen, so in Frankreich, ist dies bewusst. Andere scheinen sich aber sehr von der Realität verabschiedet zu haben.

Das Gespenst der Inflation

Die letzten Jahrzehnte kannten kaum Preissteigerungen, die Inflation war im Gegensatz zu den 1970ern und 1980ern kein Thema – und dies obwohl die vielen Euro-Rettungspakete die Geldmenge aufblähten – und das Verb „inflatare“ bedeutet aufblähen – und damit das Risiko einer Geldentwertung eigentlich seit geraumer Zeit vor sich hertreiben. Nun sind es aber neuerlich die Energiepreise, die den entscheidenden Inflationsschub liefern. In Deutschland stieg die Inflation im September auf über vier Prozent. Sie bewegt sich damit über jenen Zahlen, welche die Euro-Währungshüter festlegten.

Allein die Europäische Zentralbank EZB befindet, dass all diesen Entwicklungen zum Trotz die Inflation kein Thema sei. Dabei ist die Hauptaufgabe der EZB, den Euro zu stabilisieren. Die EZB-Chefin, Christine Lagarde, meint hingegen, dass die EZB viel mehr gegen den Klimawandel arbeiten müsse, womit sie sich zwar die Gunst der öffentlichen Meinung verschafft, aber ihr Mandat überschreitet und die Neutralität der EZB erodiert. Aber offenbar ist es chic, auf der allgemeinen Emotionswelle mitzusurfen.

Energiepolitik muss mehr als Klimapolitik sei

Wir können uns nicht auf das wichtige Thema Klimawandel reduzieren und ihm alle anderen Aspekte der Umwelt, aber auch des Wirtschaftens und des Alltags absolut unterordnen. Der Klimawandel muss Teil von Energiepolitik sein, ich führte dies in vielen Vorträgen und Büchern in den letzten 20 Jahren aus. Aber das Thema kann nicht alle anderen Bereiche überschatten.

Wir befinden uns in der historisch interessanten Situation, dass Energiepolitik erstmals nicht von technologischer Innovation getrieben wird – man erinnere sich z.B. an den Umstieg von Kohle auf Erdöl oder von Erdöl auf Nuklearenergie – sondern in erster Linie von einem gesellschaftlichen Druck, der sehr emotional geführt wird. Die wissenschaftlichen Fakten zu den Grenzen des Wachstums sind seit Jahrzehnten bekannt. Doch die Politik erscheint nun wieder wie eine Getriebene und wirkt nicht gestalterisch. Ich spreche in dem Zusammenhang oft von Teenagern, die emotional handeln. Es fehlen nicht nur in den Agenden der Energiepolitik die Erwachsenen.

Wir genießen in weiten Teilen Europas einen gemütlichen Spätsommer. Möge der Winter nicht mit klirrender Kälte aufwarten, denn dann könnten Energieversorger bei niedrigen Erdgasreserven ein Problem haben. Aber eine infantilisierte Politik denkt derzeit noch nicht an Wintertage mit wenig Sonnenschein und Windflaute, wenn die Produktion erneuerbaren Stroms versiegt und die Gefahr des Stromausfalls steigt."

Quelle: SNA News (Deutschland)

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