Asien-Kenner Frank Sieren: Unsere Abhängigkeit von China wächst
Archivmeldung vom 21.01.2012
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittChinas rasantes Wachstum treibt vielen im Westen die Sorgenfalten auf die Stirn. Wie aber sehen die Chinesen Deutschland?
Frank Sieren: Die Chinesen sehen Deutschland zunächst einmal positiv. Das liegt daran, dass wir die besten Luxusautos der Welt bauen, hochwertige Maschinen herstellen, aber auch daran, dass zwei bis drei Bundesliga-Spiele samstags live im chinesischen Fernsehen gezeigt werden. Aber das Bild von den Deutschen, oder mehr noch das der Europäer, hat sich in den vergangenen sechs bis acht Monaten dramatisch verändert, nämlich in dem Maße, in dem uns die Euro-Krise über den Kopf gewachsen ist. Inzwischen schauen die Chinesen auf Europa mit dem gleichen vorwurfsvollen Blick, mit dem wir auf Griechenland schauen. Und sie stellen die gleichen Fragen: Warum habt ihr über eure Verhältnisse gelebt, warum habt ihr die Spielregeln, die ihr euch selbst gegeben habt, nicht eingehalten und bringt nun die ganze Welt in eine Schieflage?
Das heißt, dass die momentane Lage auch den Chinesen Angst macht?
Sieren: Angst vielleicht nicht gerade, aber doch große Sorgen. Denn China braucht den Euro-Raum, als Gegengewicht zu Amerika. Und fürchtet um die größten Absatzmärkte für seine Exporte. Für die soeben angesprochene Autoindustrie ist Chinas wachsender Wohlstand ein Segen. Welche Risiken hat dieser Boom?
Sieren: Die Gefahr liegt darin, dass wir immer abhängiger vom chinesischen Markt werden. China kommt mehr und mehr in die Lage, die Entwicklungsrichtung dieser Unternehmen mit zu bestimmen. In dieser Frage ist man in Deutschland ein wenig blauäugig. Man freut sich heute über die guten Zahlen und verdrängt die steigende Abhängigkeit. Aber zunächst einmal ist das gut für die deutsche Wirtschaft.
Die US-Wirtschaft ist noch immer fast drei Mal so groß wie die chinesische. Andererseits ist China der größte Gläubiger der USA. Welche Konsequenzen hat diese Abhängigkeit?
Sieren: Der politische Spielraum Amerikas ist insofern dramatisch geschrumpft, weil China als der größte Gläubiger zwar nicht Staatsanleihen adhoc verkaufen, aber doch drohen kann, weniger neue Staatsanleihen zu kaufen und damit den US-Dollar unter Druck zu setzen. Das kann sich die angeschlagene US-Wirtschaft nicht leisten. Und daher muss der US-Präsident bei globalen Debatten inzwischen sehr genau zuhören, was die Chinesen wollen.
Washington hat also weniger Spielraum, seinen Banker zu kritisieren?
Sieren: Ja. Aber es geht nicht nur um die Bankerfrage. Der Schwerpunkt der gesamten Weltwirtschaft verlagert sich in Richtung Asien mit dem Epizentrum China. Die Wall Street ist zwar immer noch sehr mächtig, aber sie relativiert sich. Im vergangenen Jahr gab es zum ersten Mal die meisten Börsengänge der Welt in Hongkong. Unter den fünf wertvollsten Banken der Welt sind inzwischen drei chinesische und nur noch eine amerikanische und eine europäische. In der Produktion ist die Entwicklung schon viel weiter vorangeschritten. China ist die Fabrik der Welt. Und China verfügt über Rücklagen und hat eine geringe Staatsverschuldung, von denen die westlichen Industrienationen nur träumen können. Das sind Verschiebungen, die die chinesische Regierung in die Lage versetzen, wirtschaftliches Kapital in politisches umzutauschen. Das klingt zwar für manchen bedrohlich, ist aber am Ende ein großer Fortschritt. Es entsteht eine multipolare Weltordnung. Denn trotz dieses ungeheuren Machtzuwachses wird China nie so mächtig werden, wie die USA es einmal war. Die Macht wird sich auf mehrere Pole verteilen: Die Brasilianer reden mit, die Russen, die Inder, die Europäer. Alle sind gezwungen, sich an einen Tisch zu setzen und die globalen Spielregeln gemeinsam auszuhandeln. Damit wird die Weltordnung stabiler, weil nicht mehr ein Land allein in der Lage ist, unkontrolliert wirtschaftliche und politische Risiken einzugehen und die Welt dafür bezahlen zu lassen. Die Tatsache, dass der G7/8-Gipfel seit 2008 auf Präsidenten- und Premierminister-Ebene als G20-Gipfel tagt, zeigt, dass dieser Weg schon Alltag ist.
Also wird die Weltmachtstellung der USA weiter bröckeln?
Sieren: Ja. Die Einzigartigkeit der amerikanischen Machtposition ist Geschichte. Aber auch Europa und besonders Deutschland, eine der führenden Wirtschaftsmächte der Welt, verlieren an Einfluss. Wir müssen also lernen, Kompromisse einzugehen. Dazu müssen wir verstehen, wie die Chinesen ticken. Nur so können wir unsere Position wirkungsvoll einbringen. Diese Einsicht ist in Deutschland noch nicht sehr stark ausgeprägt.
Auch Europa schielt in Sachen Bewältigung der Finanzkrise auf die weißen Ritter aus dem Reich der Mitte. Doch die Chinesen reagieren reserviert. Warum zögern sie hier?
Sieren: Die Chinesen denken nicht in Entwicklungshilfe-Kategorien, wenn sie nach Europa schauen -- zum Glück noch nicht. Sie investieren, um Gewinne zu machen oder die Weltlage zu stabilisieren.
Aber die Chinesen brauchen uns auchu
Sieren: Die brauchen uns zwar, aber wenn es hart auf hart kommt, dann brauchen wir die Chinesen mehr als sie uns. Denn die Chinesen verfügen über hohe Rücklagen und können noch zwei, drei gigantische Konjunkturprogramme auflegen, ohne in eine Verschuldungslage zu kommen, in der der Westen längst ist. Amerika noch stärker als Europa. Deswegen bleibt den Europäern gar nichts anderes übrig, als zusammenzuhalten, was auch bedeutet, dass die Starken für die Schwachen einstehen. Und alle westlichen Demokratien müssen ihre politischen Systeme modernisieren. Ein Konstruktionsfehler ist, dass Politiker die Möglichkeit haben, die Kosten ihrer Politik so weit in die Zukunft zu verlegen, dass sie dafür nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden können.
Welche Mitverantwortung hat der Westen für Umweltsünden in China?
Sieren: Wir verlangen von den Chinesen, sich zurückzuhalten, was den Energieverbrauch und den CO2-Ausstoß betrifft, wollen uns aber selbst nicht einschränken. Vor allem die Amerikaner nicht. Nicht nur die Jeans "made in China", sondern auch das iPad sind ja auch deswegen bei uns im Laden so preiswert, weil der Umweltschutz nicht eingepreist wird. Wenn die chinesische Regierung zu dem Ergebnis kommt, dass China nicht mehr die Dreckschleuder der Welt sein will, könnte sie sofort eine 30-prozentige Umweltsteuer auf alle Exportprodukte aufschlagen. Werden diejenigen, die heute mit dem Finger auf den Umweltsünder China zeigen, dann ohne zu murren bei Tchibo, Karstadt und Mediamarkt auch 30 Prozent mehr zahlen? Peking hat längst erkannt, dass etwas geschehen muss. Schon heute werden in keinem Land der Welt mehr Solar- und Windanlagen hergestellt und installiert als in China.
Bangladesh, Vietnam können noch billiger produzieren. Hat China als Werkshalle Europas bald ausgedient?
Sieren: Nein. Das sind sehr kleine Länder, die zudem logistisch schlecht aufgestellt sind. Es ist nicht so einfach, große Produktionseinheiten anderswo aufzubauen. Es gibt auf absehbare Zeit kein Land, das Waren so schnell, so viel, so günstig und mit so hoher Qualität produzieren, wie China.
Auch in China werden Protes"te gegen Dumpinglöhne, Umweltverschmutzung und Land-Enteignungen häufiger und massiver. Bewirkt das ein Umdenken bei den mächtigen Hardlinern der Regierung?
Sieren: Dass die Menschen sich nicht alles gefallen lassen, ist die beste Garantie dafür, dass die Regierung sich anstrengt. Insofern sind Proteste wichtig und gut. Dennoch glaube ich, dass diese Proteste auf absehbare Zeit lokal und regional bleiben und die Menschen nicht versuchen werden, die Zentralregierung zu stürzen.
Also keine Nachahmungsgefahr des ,,arabischen Frühlings"?
Sieren: Ich halte das für sehr unwahrscheinlich. Die Volkswirtschaften Nordafrikas steckten und stecken in einer tiefen Krise. China ist mit knapp zehn Prozent Wachstum hingegen sehr erfolgreich. Die lokalen Proteste allerdings könnten weiter zunehmen. Das ist aber ein gutes Zeichen. Die Menschen können so Dampf ablassen, was sehr wichtig ist.
Globale Rohstoffknappheit zwingt auch China zum Handeln. Sind die Chinesen cleverer, wenn es um den Griff auf Ölhähne geht?
Sieren: Ja. Nach dem Irakkrieg haben die Chinesen etwa doppelt so viele Ölfelder bekommen wie die Amerikaner, obwohl die Amerikaner den Krieg geführt haben. Soeben haben die Chinesen auch ein riesiges Ölfeld in Afghanistan gekauft, die Amerikaner ziehen sich zurück. Im Iran wird die Sanktionspolitik nicht funktionieren. Währenddessen sichert sich Peking dort die Ressourcen. Wenn man die Mullahs schwächen will, muss man dort investieren, damit die Menschen eine Alternative zur fanatischen Religion bekommen. So war das einst auch im China der 80er-Jahre: In dem Moment, als die Chinesen die Wahl zwischen einer Mao-Bibel und einem Kühlschrank hatten, haben sich alle für den Kühlschrank entschieden. Insofern ist die Pekings Politik der wirtschaftlichen Kooperation doch nicht so zynisch, wie man auf den ersten Blick denken könnte.
Kann Deutschland das chinesische Überholmanöver in Sachen Technik noch stoppen?
Sieren: Die Chinesen hatten natürlich hier ganz andere Möglichkeiten, die Forschung voranzutreiben. Hier zeigt sich, dass sie uns inzwischen nicht mehr nur über den Preis schlagen können, sondern auch in Sachen Innovation. Die Chinesen arbeiten jetzt schon an einem Konkurrenzflugzeug zu Boeing und Airbus. Das wird nicht nur billiger, sondern in einzelnen Belangen auch besser sein. Dieser Wettbewerb muss uns anspornen. Wir müssen uns noch mehr anstrengen als früher. Sonst geht es auch anderen Industrien wie der deutschen Solarbranche. Die hielten sich für uneinholbar fortschrittlich und haben von Subventionen geblendet zu wenig in Forschung und Entwicklung investiert. Inzwischen haben die Chinesen sie abgehängt.
Die Verleihung des Friedensnobelpreises 2010 an Liu Xiaobo haben Sie, wie einige andere auch, kritisiert, weil er auf Chinas Reformer eher strangulierend als bestärkend gewirkt hat. Welche Möglichkeiten hat der Westen, um Missstände anzuprangern?
Sieren: Wir sollten durchaus klar und deutlich sagen, was wir für falsch halten. Es kommt jedoch auf den Tonfall an. Wenn man zum Beispiel etwas an seinem Ehepartner auszusetzen hat, sagt man es ihm doch auch eher unter vier Augen, als dass man ihn in großer Runde bloßstellt. Und man wählt einen Tonfall, der Einsicht wahrscheinlicher werden lässt. Alles andere ist kontraproduktiv. Das ist bei Ländern nicht viel anders.
Das Gespräch führte Dietlinde Terjung
Quelle: Landeszeitung Lüneburg (ots)