Die erschreckenden Mängel der Berufseinsteiger
Archivmeldung vom 29.07.2008
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Freigeschaltet durch Oliver RandakSie sind schlampig, unhöflich und unzuverlässig – und bekommen keinen geraden Satz heraus: Deutsche Chefs klagen über die eklatanten Mängel vieler Berufseinsteiger. Jetzt bessern manche Arbeitgeber nach, wo Eltern und Lehrer versagt haben. Sie bringen der Jugend Benehmen bei.
Die Schulnoten waren in Ordnung, und der junge Mann kam auf Empfehlung. Trotzdem dauerte das Vorstellungsgespräch beim Hotel "InterContinental" in Berlin nur ein paar Minuten. Wie sich denn die 23 Fehlstunden auf dem Schulzeugnis erklärten, war die Frage. "Der Lehrer war so blöd", lautete die lapidare Antwort des Bewerbers um einen Ausbildungsplatz zum Restaurantfachmann. "Da hatte sich der Fall schon erledigt. Bei uns hätte ihm sicherlich der Ausbilder nicht gepasst oder ein Gast. Bei so einer Einstellung hat es keinen Zweck", sagt Hoteldirektor Willy Weiland. "Leider erleben wir ähnliche Fälle immer häufiger."
Disziplin, Pflichtbewusstsein, Ordnungssinn, Gewissenhaftigkeit, Treue, Höflichkeit. Oder moderner: Motivation und Teamfähigkeit. Die sogenannten Sekundärtugenden entwickeln sich zu einem kritischen Faktor auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt. Einer Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelstages (DIHK) zufolge klagen Firmen nicht nur über einen Mangel an Bewerbern oder über ungenügende Rechenkünste. Jedem zweiten Ausbildungsbetrieb fehlt es bei Schulabgängern auch an Leistungsbereitschaft und Motivation.
Oft geben die "Soft Skills" den Ausschlag, sogar für oder gegen eine Stellenbesetzung: "Wir müssen immer häufiger auf Bewerber verzichten, weil diese Werte vermissen lassen, die in der Vergangenheit von Eltern stärker vermittelt wurden. Dazu gehören für die Arbeit in einem Luxushotel elementare Tugenden wie Disziplin, Eloquenz, Höflichkeit und Zuverlässigkeit", sagt der Berliner "InterConti"-Chef Weiland. "Für manche ist es nicht einmal selbstverständlich, die Kollegen zu grüßen."
Experte: Deutsche Schulen versagen bei Vermittlung sozialer Kompetenzen
Soft Skills werden so zunehmend zu einem harten Auswahlkriterium. "Sekundärtugenden
sind in Wirklichkeit Primärtugenden", sagt Andreas Schleicher,
Erfinder und Koordinator des Bildungstests Pisa bei der
Industrieländerorganisation OECD in Paris. Schleichers Meinung nach weist
das deutsche Schulwesen bei der Vermittlung sozialer Kompetenzen Defizite
auf, die sich im Berufsleben als verhängnisvoll erweisen können. Denn in
einer immer komplexeren und vielfach vernetzten Arbeitswelt wird die
Fähigkeit zur sozialen Interaktion zur Schlüsselkompetenz: "Wer
sich heute etwa bei McKinsey bewirbt, wird zwar auch darauf getestet, ob er
in kognitiver Hinsicht zur Leistungsspitze zählt. Das ist die
Grundvoraussetzung. Doch entscheidende Kriterien sind dann, wie ein Bewerber
in der Lage ist, Konflikte zu lösen und im Team zu agieren."
Deshalb wird die mangelnde Sozialkompetenz nicht mehr nur in den klassischen Dienstleistungsbranchen des Hotel- und Gaststättengewerbes beklagt. "Natürlich sind uns Kenntnisse in Naturwissenschaften, Mathe und Deutsch wichtig", sagt etwa Claudia Beckert, Personalchefin der Aerzener Maschinenfabrik GmbH im niedersächsischen Aerzen. "Doch wenn ich bei Kopfnoten wie Sozialkompetenz oder Leistungswille den Vermerk ,mit Einschränkungen' lese, schaue ich mir den Bewerber gar nicht erst an."
Seriöses
Auftreten und ein Mindestmaß an Etikette seien nicht nur bei Mitarbeitern
gefragt, die das Maschinenbauunternehmen aus dem Weserbergland nach außen
vertreten, sagt Beckert. "In der Fertigung, in der Verwaltung: In allen
Bereichen wird in Teams gearbeitet. Damit das funktioniert, muss bei uns
jeder Mitarbeiter gewisse Sekundärtugenden mitbringen."
Was
die Eltern zu lehren vergaßen und die Schulen versäumten, versuchen
Unternehmen nun mit professioneller Hilfe nachzuschulen. "In unserem
Flight-Training bilden wir Flugbegleiter in Umgangsformen und
interkultureller Kompetenz aus. Doch auch vom nicht fliegenden Personal aus
anderen Unternehmensbereichen und von externen Wirtschaftsunternehmen werden
diese Kurse stark nachgefragt", sagt Patrick Meschenmoser von der
Lufthansa. Während im Umgang mit Fluggästen Freundlichkeit, Stil und
Etikette wichtig sind, wird bei Lufthansa Technik auf eine andere Tugend
besonderen Wert gelegt: Ehrlichkeit. "Wer einen kleinen Kratzer in die
Außenhaut eines Flugzeugs macht, kann dadurch einen Schaden von mehreren
Tausend Euro verursachen. Dennoch muss er den Vorfall sofort melden. Eine
gute Fehlerkultur ist für uns essenziell."
Unternehmen sponsern schon Benimm-Kurse für Azubis
Auch die Aerzener Maschinenfabrik betreibt Selbsthilfe. Sie sponsert
inzwischen Benimmkurse einer örtlichen Schule, bei denen Hotelfachkräfte
über Umgangsformen dozieren. "Das Interesse ist groß. Diese
Erfahrung machen wir auch in unserer Lehrwerkstatt: Die Azubis brauchen und
wollen Orientierung und eine klare Ansage", sagt Beckert, die die
Verantwortung für den Tugendmangel keineswegs bei der Jugend von heute
sieht: "Nicht alle Eltern vermitteln ihren Kindern die nötigen Werte.
Und die Lehrer können das Elternhaus nicht ersetzen."
Oder sie unterrichten mit den falschen Zielvorgaben. Rechenaufgaben, Vokabeltests: "Schule bewertet vor allem das, was leicht zu bewerten ist", sagt OECD-Experte Schleicher. Die Fixierung auf seinen eigenen Pisa-Test, räumt er ein, könnte diese Tendenz noch verstärken. Schleicher dringt auf pädagogisches Umdenken: "Schulen müssen nicht nur kognitive Kompetenzen vermitteln und bewerten, sondern auch soziale Kompetenz. Und die Fähigkeit, sich in einem ständig verändernden beruflichen Umfeld immer wieder neu zu positionieren." Ein Vorbild könne Skandinavien sein, sagt Schleicher: "Nordische Länder pflegen seit Jahren eine Kultur des sozialen Lernens, in der Schülern Verantwortung übertragen wird und gemeinschaftliches Lernen gefördert wird."
Viele Kindern und Jugendliche sind durchaus willig. Die Hotelgruppe Steigenberger etwa offeriert an mehreren Standorten sogenannte Kinder-Knigge-Kurse für Schüler. Ihr Personaldirektor, Andreas Elvers, sagt: "Die Nachfrage ist so groß, dass wir nicht hinterher kommen. Die Offenheit für das Thema ist viel größer als vor 20 Jahren - auch bei den Jugendlichen."
Das könnte unter anderem daran liegen, dass gerade lernschwache Schüler eine Nische erkennen. "Leistungsbereitschaft, Disziplin und gute Umgangsformen können schwächere schulische Noten in Teilen ausgleichen", erklärt Thilo Pahl, Bildungsexperte des DIHK: "In Zeiten eines verschärften Wettbewerbs um knappe Lehrlinge geben Betriebe zunehmend auch lernschwächeren Jugendlichen eine Chance - wenn die Persönlichkeitsfaktoren stimmen."