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DIW-Experten Karl Brenke über die Tarifverhandlungen: "Eine Vier vor dem Komma"

Archivmeldung vom 11.01.2018

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 11.01.2018 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch André Ott
Bild: Gerd Altmann / pixelio.de
Bild: Gerd Altmann / pixelio.de

Die Tarifparteien entscheiden in diesem Jahr über die Vergütungen von rund zehn Millionen Beschäftigten. Die Position der Gewerkschaften ist angesichts der geringen Arbeitslosenzahlen und des Fachkräftemangels in immer mehr Branchen ungewohnt stark. Kann man schon von einem Ungleichgewicht sprechen?

Karl Brenke: Die gute Konjunktur verschafft den Gewerkschaften Luft, um relativ hohe Lohnforderungen zu stellen. In der Vergangenheit haben die Gewerkschaften den Verteilungsspielraum, der sich aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung geboten hat, nicht ausgeschöpft. Aktuell gibt es zum Beispiel im Bereich der Metall-Industrie Lohnsteigerungen von rund zwei Prozent. Die Inflationsrate liegt kaum darunter. Rechnet man die kalte Progression bei der Steuer dazu, gibt es zwar keine Reallohnverluste, aber eben auch keine Gewinne. Daher sind die Gewerkschaften aufgefordert, höhere Lohnabschlüsse durchzusetzen - zumal die Unternehmen in der Metall- und Elektroindustrie im Durchschnitt relativ gut verdienen.

Der IG Metall geht es neben Lohnerhöhungen dieses Mal vor allem um die Zukunft der Arbeitsbedingungen. Mangelt es in Deutschland generell an neuen Arbeitszeitmodellen?

Karl Brenke: Ich bin da sehr skeptisch. Die IG Metall beruft sich bei ihrer Forderung, die individuelle Arbeitszeit auf bis zu 28 Stunden pro Woche verkürzen zu können, auf Umfragen unter ihren Mitgliedern. Als Befragter gibt man bei solchen Umfragen zwar an, dass man so eine Verkürzung gerne hätte. Ob man dann aber tatsächlich auch eine Arbeitszeitverkürzung für sich in Anspruch nimmt, ist eine ganz andere Sache. Die Psychologie hat immer wieder gezeigt: Ein angekündigtes Handeln muss nicht mit dem späteren tatsächlichen Handeln übereinstimmen. Falls es zu einer Arbeitszeitverkürzung kommt, wird sie gewiss mit Lohneinbußen einhergehen. Wie groß sie ausfallen, werden die Verhandlungen zeigen. Aber unterm Strich wird es sicher Lohnverluste geben. Die Forderung der Metaller zielt allerdings darauf, dass die Arbeitnehmer mehr Zeit etwa für die Betreuung der Kinder haben sollten. Sie richtet sich gerade an jüngere Mitglieder. Aber die Erfahrung zeigt, dass auch jüngere Familien gerne das Geld und nicht das Plus an Freizeit wählen, denn gerade junge Familien sind auf das Geld angewiesen.

Müssen Arbeitgeber auch von sich aus neue Angebote machen, weil der Konkurrenzkampf um Fachkräfte künftig weiter zunimmt?

Karl Brenke: Zunächst müssen die Arbeitgeber bei der Bezahlung zulegen. Lohnabschlüsse wie in den vergangenen Jahren werden wenig attraktiv sein, um zusätzliche Arbeitskräfte anwerben zu können. Das kann die IG Metall nutzen, die in den letzten Jahren eine eher schlafmützige Lohnpolitik betrieben hat. So müsste bei den Tarifabschlüssen eine Vier vor dem Komma stehen. Das gibt auch die wirtschaftliche Entwicklung her. Alles andere wäre für die Gewerkschaftsmitglieder enttäuschend. Seitens der Arbeitgeber kann man mit vielfältigen betrieblichen Anreizen versuchen, Arbeitskräfte an sich zu binden. Das muss keine Arbeitszeitverkürzung sein, sondern können auch Angebote an betrieblicher Kinderbetreuung, Maßnahmen zur Gesundheitserhaltung oder an Weiterbildung sein. Und angesichts der Wohnungsknappheit in vielen Städten könnte auch die gute, alte Tradition der Werkswohnungen wieder belebt werden.

Eine weitere Diversifizierung von Arbeit passt in die Zeit. So gibt es den immer größeren Wunsch nach besserer Vereinbarkeit von Job und Familie. Gibt es angesichts der im internationalen Vergleich zuletzt wieder gestiegenen Arbeitskosten in Deutschland überhaupt genügend Spielraum?

Karl Brenke: Deutschland ist eine große Exportnation und steht natürlich im internationalen Wettbewerb. Mit Blick auf die Entwicklung in den vergangenen Jahren haben die deutschen Unternehmen enorm von einer Lohnzurückhaltung profitiert. Das hat zu starken Spannungen im Euro-Raum geführt. Nicht zu Unrecht kritisieren einige andere Länder, dass Deutschland nicht permanent seine Wettbewerbsfähigkeit verbessern könne durch ein Zurückbleiben bei den Löhnen. Selbst die Deutsche Bundesbank, die in der Vergangenheit oft vor Lohnanhebungen gewarnt hat, fordert inzwischen höhere Löhne. Von daher glaube ich, dass die Unternehmen bei den anstehenden Tarifrunden deutlich mehr bieten müssen. Man kann schließlich nicht die Vorteile einer Währungsunion ausnutzen, und sie dabei aber untergraben, indem man der Konkurrenz in anderen Teilen der Euro-Zone durch unangemessen niedrige Lohnsteigerungen schadet. Die deutschen Unternehmen und Gewerkschaften sollten sich endlich stabilitätsgerecht verhalten.

Besteht die Gefahr, dass sich Gewerkschaften bei immer mehr Arbeitszeit- und Entgelt-Modellen am Ende selbst schwächen, weil sich Forderungen in Tarifrunden nicht immer weiter spezifizieren lassen?

Karl Brenke: Das ist in der Tat ein Problem. Wenn ich schon sehe, dass versucht wird, immer mehr Elemente in den Tarifverhandlungen unterzubringen. Das lenkt von der hauptsächlichen Aufgabe der Gewerkschaften, also der Lohnpolitik, ab. Ein Beispiel: Eine Gewerkschaft fordert die Übernahme von Auszubildenden. Das mag gut und schön sein. Aber warum sollte das eine Forderung der Arbeitnehmervertreter sein, wenn die Unternehmen behaupten, dass es einen Fachkräftemangel gibt? Industriegewerkschaften sind auch bekannt dafür, dass sie gerne auf eine Ausweitung der Altersteilzeit setzen. Das kommt aber nur älteren Arbeitnehmern zugute. Insofern ist die neue Forderung nach Arbeitszeitverkürzung, die sich vor allem an jüngere Arbeitnehmer richtet, vielleicht ein Versuch, hier einen Ausgleich zu schaffen und mehr Mitglieder zu mobilisieren beziehungsweise neue Mitglieder unter den Jüngeren zu gewinnen. Die Liste von Beispielen ist auf jeden Fall ziemlich lang - und führt dazu, dass die Tarifverhandlungen immer mehr zerfleddern und das Wesentliche vernachlässigt wird.

Sehen Sie rechtliche Probleme, wenn es für jüngere Familien einen Teillohnausgleich gäbe? Immerhin sprechen die Arbeitgeber von einer Ungleichbehandlung gegenüber denjenigen, die schon in Teilzeit sind und keinen Teillohnausgleich bekommen würden.

Karl Brenke: Grundsätzlich kann man alles in Tarifverträgen regeln. Aber es gäbe eine großes Wirrwarr. Und ich könnte mir vorstellen, dass es in der Belegschaft Murren und Klagen gibt, wenn ein Arbeitnehmer bereits eine reguläre Teilzeitbeschäftigung hat und keinen Ausgleich bekommt, der andere aber die tarifvertraglich vereinbarte Arbeitszeitverkürzung wählt und einen Ausgleich bekommt. Eine solche Arbeitszeitverkürzung würde eindeutig die Teilzeitbeschäftigten diskriminieren. Das könnte für die Gewerkschaften ein Problem werden - auch rechtlich.

Abseits von Tarifverhandlungen und Tarifpartnern: Was könnte denn die Politik beitragen, was sollte oder könnte eine mögliche neue große Koalition beitragen?

Karl Brenke: Auch eine große Koalition kann nichts beisteuern, weil die Lohnfindung Sache der Tarifpartner ist, die Tarifautonomie grundgesetzlich geschützt ist. Was die Politik aber angesichts des künftig knapper werden Angebots an Arbeitskräften beisteuern könnte , wäre der Wegfall der steuerlichen Begünstigung bei der Altersteilzeit. Denn dafür gibt es meiner Meinung nach keine Gründe mehr. Aber rationales Handeln ist von der Politik in dieser Hinsicht wohl nicht zu erwarten - siehe die Rente mit 63.

Was wäre dringender: Eine Senkung der Steuer- oder der Beitragslast? Karl Brenke: Das ist eine schwierige Frage. Aber wenn ich auf die Einkommensverteilung in Deutschland blicke, würde ich an der Stelle der Gewerkschaften erst einmal Lohnabschlüsse erzielen, die den Verteilungsspielraum auch ausschöpfen. Damit wäre schon viel gewonnen.

Zur Person

Karl Brenke studierte Soziologie, Volkswirtschaftslehre und Statistik an der Freien Universität Berlin. Von 1983 bis 1985 war er wisssenschaftlicher Assistent an der FU Berlin ( Forschungsstelle Sozialökonomik der Arbeit). Seit 1985 ist er wissenschaftlicher Referent im Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und Autor zahlreicher Publikationen.

Quelle: Landeszeitung Lüneburg (ots)

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