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Wohlstand in Deutschland wegen gestiegener Ungleichheit seit 1991 nur schwach gewachsen

Archivmeldung vom 01.07.2017

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 01.07.2017 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Manuel Schmidt
Bild: Thorben Wengert / pixelio.de
Bild: Thorben Wengert / pixelio.de

Das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist zwischen 1991 und 2015 um knapp 32 Prozent gewachsen. Der gesamtwirtschaftliche Wohlstand in der Bundesrepublik hat hingegen im gleichen Zeitraum lediglich um knapp 6 Prozent zugenommen. Zwar hat sich der Wohlstand zuletzt erstmals seit langem wieder im Gleichklang mit dem BIP entwickelt. 2015, so die nun vorliegenden neuesten Daten, stieg er um 1,4 Prozent, 2014 sogar um 2,6 Prozent. Doch trotz dieser Beschleunigung befand sich das gesamtwirtschaftliche Wohlfahrtsniveau Ende 2015 nur auf dem gleichen Stand wie Mitte der 1990er Jahre.

Das zeigt der „Nationale Wohlfahrtsindex 2017“ (NWI 2017), den ein Wissenschaftlerteam um Prof. Dr. Hans Diefenbacher (Institut für Interdisziplinäre Forschung (FEST) Heidelberg) im Auftrag des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung aktualisiert hat.* Hauptgrund für das relativ schwache Abschneiden bei der Wohlfahrtsentwicklung ist nach Analyse der Forscher der deutliche Anstieg der Einkommensungleichheit vor allem in den 2000er Jahren.

Der NWI hat das Ziel, Lücken zu schließen und Widersprüche aufzulösen, die sich bei der klassischen Methode der Wohlstandsmessung allein über das BIP ergeben. So kritisieren viele Experten, dass das Inlandsprodukt weder die Verteilung der Einkommen noch Ressourcenverbrauch und Umweltbelastungen angemessen erfasst. Beispielsweise steigern Sanierungsarbeiten, mit denen eine Umweltverschmutzung beseitigt wird, in vollem Umfang das BIP. Dieser Teil des Wachstums trage aber „nicht zu einer wirklichen Wohlfahrtssteigerung bei“, betonen Diefenbacher und seine Forscherkollegen Benjamin Held (FEST), Dorothee Rodenhäuser (FEST) und Roland Zieschank (FU Berlin).**

20 Indikatoren von Konsum über Ungleichheit bis Luftverschmutzung. Die Wissenschaftler beziehen für den NWI insgesamt 20 Komponenten ein, um ein realistischeres Bild der Wohlfahrtsentwicklung zu erhalten. Zu den wichtigsten zählt der private Konsum, der mit dem so genannten Gini-Index gewichtet wird. Dieser Index zeigt an, wie gleich oder ungleich die Einkommen in einem Land verteilt sind. Wird die Verteilung ausgeglichener, gibt das Pluspunkte beim Konsum, steigende Ungleichheit führt zu einem Abzug. Das begründen die Forscher nicht moralisch, sondern ökonomisch: Wenn zusätzliche Einkommen Menschen mit geringerem Einkommen zufließen, stiften sie dort einen höheren „Grenznutzen des Konsums“ als bei Reichen, bei deren Einkommen der gleiche absolute Zuwachs kaum ins Gewicht fällt. Und die ihre Bedürfnisse nach Waren und Dienstleistungen schon weitaus besser decken konnten.

Darüber hinaus erfasst der NWI unter anderem auch die Wertschöpfung durch Hausarbeit und ehrenamtliche Tätigkeiten sowie einen Teil der öffentlichen Ausgaben für Gesundheit und Bildung als wohlfahrtsstiftend. Von der Bilanz abgezogen werden dagegen etwa Aufwendungen zur Kompensation von Umweltbelastungen, Kosten für nicht erneuerbare Energieträger, Schäden durch Luftverschmutzung, Treibhausgase oder Lärmbelästigung sowie Kosten, die durch Kriminalität und Verkehrsunfälle entstehen. Auf diese Weise haben die Forscher in ihre Berechnung einen Korrekturfaktor eingebaut, um „Schattenseiten“ des grundsätzlich positiv gewerteten Konsums zu erfassen.

Im Vergleich zu Vorläuferversionen, die Diefenbacher und Kollegen unter anderem mit Unterstützung des Bundesumweltministeriums entwickelt haben, ist der IMK-geförderte NWI 2017 deutlich aktueller. Das liegt vor allem daran, dass die Forscher einen Weg gefunden haben, den Gini-Wert rascher verlässlich einzubeziehen. Daher kann der Index erstmals einen vorläufigen Wert für das gesamte Jahr 2015 liefern. Die älteren Versionen hatten noch eine Vorlaufzeit von mindestens zwei Jahren.

Für den Zeitraum seit 1991 identifizieren die Forscher drei abgeschlossene Phasen der Wohlfahrtsentwicklung. Möglich ist, dass die aktuellsten Jahre 2014 und 2015 den Beginn einer vierten Phase mit wieder beschleunigter Wohlstandssteigerung markieren: „Ob diese über einen längeren Zeitraum anhalten wird, lässt sich allerdings noch nicht beurteilen“, schreiben die Wissenschaftler.

- Zwischen 1991 und 1999 stiegen BIP und NWI im Gleichklang – um durchschnittlich etwa 1,5 Prozent im Jahr. Den moderat positiven Trend bei der Wohlfahrtssteigerung erklären die Wissenschaftler mit zwei Entwicklungen: Erstens stiegen die privaten Konsumausgaben spürbar, während die Einkommensungleichheit in etwa gleich blieb. Zweitens gingen die Kosten der Umweltverschmutzung deutlich zurück. Allerdings trug dazu neben technischem Fortschritt auch der Zusammenbruch der Industrie in Ostdeutschland bei. Die dadurch verursachte massive Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern führte zwar nicht zu Einbrüchen beim Konsum, sie dämpfte die Wohlfahrtsentwicklung aber vor allem zwischen 1991 und 1994.

  • Von 1999 bis 2005 reduzierte sich das jährliche BIP-Wachstum spürbar auf durchschnittlich ein Prozent. Noch deutlich stärker schlug die Krise nach dem Platzen der Internet-Blase aber auf die im NWI gemessene Wohlfahrtsentwicklung durch. In Jahren hoher Arbeitslosigkeit und stagnierender Löhne wuchs die Einkommensungleichheit spürbar an, was die nur noch geringfügige Steigerung der Konsumausgaben überlagerte. Der Wert des Gini-Koeffizienten stieg von 0,25 auf 0,29 – eine in diesem kurzen Zeitraum auch im internationalen Vergleich ungewöhnlich starke Zunahme der Ungleichheit. Die Umweltbelastung sank zwar weiter, doch viel zu schwach, um den Negativ-Trend zu stoppen. Unter dem Strich sank der NWI in diesem Zeitraum um durchschnittlich 1,5 Prozent pro Jahr.
  • In der dritten Phase, zwischen 2005 und 2013, beschleunigte sich das BIP-Wachstum trotz Finanz- und Wirtschaftskrise wieder auf jahresdurchschnittlich 1,4 Prozent. Die Wohlfahrtsentwicklung nach dem NWI stagnierte – genau gesagt, sank sie um 0,1 Prozent im Jahresmittel. Das liegt vor allem daran, dass der Konsum lediglich moderat wuchs, während das im NWI mitgemessene Volumen der Hausarbeit zurückging. Die Umweltparameter verbesserten sich geringfügig. Recht positiv fiel die Wohlfahrtsbilanz für 2009 aus. Im Jahr der Finanz- und Wirtschaftskrise brach zwar das BIP massiv ein, der Konsum ging jedoch nur minimal zurück. Damit schlägt sich der Erfolg der damaligen Antikrisenstrategie aus Konjunkturstimulierung, Kurzarbeit und Arbeitszeitverkürzung, die vor allem in mitbestimmten großen Industriebetrieben umgesetzt wurde, auch im NWI nieder.
  • In den beiden aktuellsten für den NWI auswertbaren Jahren wuchsen BIP und Wohlstand erstmals seit anderthalb Jahrzehnten wieder annähernd gleich stark: 2014 legte der Wohlfahrtsindex um 2,6 Prozent zu und ließ das Wirtschaftswachstum (1,6 Prozent) damit sogar hinter sich. 2015 nahm der NWI um 1,4 Prozent zu, das BIP um 1,7 Prozent. Nach Analyse der Forscher beruhte die Annäherung vor allem auf einer soliden Zunahme beim Konsum im Gefolge spürbarer Reallohnzuwächse. Dazu kamen 2014 niedrigere Kosten für nicht erneuerbare Energieträger, weil witterungsbedingt der Verbrauch von Heizenergie sank. Die Entwicklung der Einkommensungleichheit wirkte sich unterschiedlich aus: 2014 nahm sie leicht ab, 2015 stieg sie nach der vorläufigen Gini-Schätzung leicht wieder an.

Insgesamt zeige der alternative Wohlfahrtsindex ein deutlich differenzierteres Bild als das BIP, betonen Diefenbacher und seine Forscherkollegen: „Erst wurde es besser, dann wieder schlechter. Es folgte eine Zeit der Stagnation, und auch die deutliche Steigerung der letzten beiden Jahre führt bisher lediglich auf das Niveau von 1995 zurück.“

Quelle: Hans-Böckler-Stiftung (idw)

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