Droht ein Krieg im Baltikum?
Archivmeldung vom 02.07.2018
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittDer Aufmarsch von Nato- und US-Truppen im Baltikum ist derzeit „weitaus gefährlicher“ als das Geschehen um die Krim. Das meint Abrüstungsexperte Ralf Rudolph. Die Medien lenken davon ab, was derzeit dort an der russischen Grenze geschieht, ergänzt Autor Uwe Markus. Beide haben gemeinsam ein Buch über das „Aufmarschgebiet Baltikum“ veröffentlicht.
Die Gefahr droht, „dass aus einem nichtigen Anlass – oder gewollt – die Situation so eskaliert, dass sie politisch nicht mehr beherrschbar ist“, warnte Autor Uwe Markus gegenüber Sputnik mit Blick auf das „Aufmarschgebiet Baltikum“. Gemeinsam mit Ralf Rudolph, ehemaliger Oberst der Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR, geht er im gleichnamigen Buch unter anderem auf den Ausgangspunkt dieser Konfrontation ein, die Nato-Osterweiterung. Das „Agieren der Europäischen Union in diesem Bereich, sehr hemdsärmelig, ohne Absprache mit Russland“, gehöre ebenso dazu, ergänzte er im Interview. Das habe dafür gesorgt, dass die Spannungen zunehmen.
Beide analysieren in dem Buch die zunehmende Konfrontation zwischen der Nato und Russland durch Truppenverlegungen und Manöver. Die habe dazu geführte, dass in der Region an der Ostsee „die Gefahr eines militärischen Konfliktes besonders hoch ist“. Dabei wird auch daran erinnert, dass Russlands Präsident Wladimir Putin in seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 die Nato-Osterweiterung als „provozierenden Faktor“ bezeichnete und im April 2008 bereits warnte: „Wir betrachten die Ankunft eines Militärblocks an unseren Grenzen, dessen Mitgliedschaft die Verpflichtungen des Artikel 5 einschließt, als eine direkte Bedrohung der Sicherheit unseres Landes“.
Scharfe Nato-Beruhigungspillen für Balten?
„Diese Aussage gilt auch für die zunehmende militärische Präsenz der Nato und der US-Streitkräfte im Baltikum“, so Rudolph und Markus in ihrem Buch. Die beiden Autoren stellen ebenso fest: „Als am 29. März 2004 Estland, Lettland und Litauen in der zweiten Runde der Nato-Osterweiterung in die Allianz aufgenommen wurden, verstieß das Bündnis gegen seine eigenen Regeln. Zu den Aufnahmekriterien der Nato gehört, dass die Kandidaten sich selbst verteidigen können. Dies war und ist bei keinem der drei baltischen Staaten der Fall.“ Deshalb haben beispielsweise die Streitkräfte anderer Nato-Armeen sogenannte Luftpolizei-Aufgaben (Air Policing) über dem Baltikum übernommen. Dazu gehören Jets der Bundesluftwaffe mit scharfen Waffen entlang der russischen Grenze.
„Hauptproblem ist mit, dass man von der Nato-Seite aus die baltischen Staaten beruhigen will“, schätzte Ex-Militär Rudolph die Motive ein. Ko-Autor Markus ergänzte: „Das erste Ziel ist, dass die baltischen Staaten sich damit als Außenposten der Europäischen Union, als Außenposten des Westens, darstellen können.“ Sie würden die anderen Nato-Partner mit der betonten angeblichen Gefahr eines Überrollens durch Russland in die Pflicht nehmen und „in gewissem Sinne auch moralisch erpressen“.
Und: „Die Diskussion über eine angebliche russische Gefahr, ein bevorstehender Angriff Russlands auf das Baltikum, kann natürlich auch benutzt werden seitens der Führungsmacht USA, um die Nato zu disziplinieren.“ Das helfe zum Beispiel beim Durchsetzen der Zwei-Prozent-Marke für Rüstungsausgaben. Das Beschwören einer russischen Bedrohung ermögliche der Nato-Führungsmacht, sich stärker direkt militärisch und politisch innerhalb der Allianz zu positionieren und diese auf ihre politische Linie einzuschwören.
Nutzt Moskau Nato-Lücke aus?
Markus erinnerte an „klare Aussagen der russischen Regierung, dass man nicht im Traum daran denke, das Baltikum irgendwie zurückzuholen“. Dagegen werde seit 2014 wiederholt behauptet, Präsident Putin hätte die Absicht, „die russische Erde wieder einzusammeln“. Moskau habe stattdessen kein Interesse an einem solchen „politischen Selbstmord“. Die politischen und militärischen Folgekosten wären für Russland viel zu hoch, um einen solchen Schritt zu rechtfertigen. Westliche Politiker würden allerdings eingestehen, dass die russische Führung nicht wirklichkeitsfern sei und rational entscheide.
Nato-Kreise und —Medien diskutieren immer wieder über die „Suwalki-Lücke“ zwischen Polen und Litauen als „Achillesferse der Nato“. Ein möglicher russischer Angriff dort setzt laut Markus voraus, „dass Russland bereit wäre zu einem großen Krieg gegen die Nato. Man muss sich da die Frage stellen, warum sollten sie das tun? Warum sollten sie das riskieren?“ Würde das ernst genommen, bedeute das unter anderem, die in diese Lücke gesandten Nato-Soldaten wären „im Grunde genommen militärisch chancenlos, das wäre ein Himmelfahrtskommando“.
Würde die Nato versuchen, die „Suwalki-Lücke“ bei einem russischen Angriff offen zu halten, käme es zu einem „richtig großen konventionellen oder teilweise mit nuklearen Mitteln geführten Krieg“. Für Markus stellt sich „die Frage stellen, wie realistisch ist eine solche Annahme, und wie verantwortlich ist es, mit einem solchen militärischen Ernstfall zu spielen und den zur Vorlage für irgendwelche Manöver zu nehmen“.
Unzutreffender historischer Vergleich?
Kritiker verweisen darauf, dass mit dem Nato-Aufmarsch im Baltikum wieder deutsche Soldaten und Waffen mit dem Balkenkreuz etwa 160 Kilometer vor St. Petersburg, dem früheren Leningrad, stehen. Für den Historiker Wolfgang Benz ist das zum einen ein Beleg dafür, dass nicht aus der Geschichte gelernt wird. Zum anderen erklärte er gegenüber Sputnik, der Vergleich sei nicht zutreffend, „schließlich arbeiten – trotz aller Schwierigkeiten und Probleme, die es derzeit wegen Versäumnissen auf beiden Seiten gibt – die Nato und die russische Armee in manchen Bereichen zusammen. Sie stehen sich nicht feindlich gegenüber.“
Abrüstungsexperte Rudolph widersprach Benz und verwies darauf, „dass es in den letzten Monaten und eigentlich schon seit der Krimsache fast keine Zusammenarbeit zwischen Russland und der Nato mehr gibt“. In Folge des Falles um den mutmaßlich vergifteten Ex-Agenten Sergej Skripal habe die Nato alle Verbindungen zu Russland abgebrochen. „Und es ist im Moment nicht zu hoffen, dass sich in der nächsten Zeit auf diesem Gebiet etwas erleichtern wird, was die Zusammenarbeit betrifft.“
Ko-Autor Markus sieht einen Vergleich mit der Zeit vor und während des Zweiten Weltkrieges als schwierig an. Er erinnerte aber an die Zusammenarbeit zwischen Roter Armee und Reichswehr in den 1920 bis 1930er Jahren sowie den deutsch-sowjetischen Nichtangriffs- und Freundschaftsvertrag 1939. „Das hat nichts daran geändert, dass man den Überfall auf die Sowjetunion vorbereitet und durchgeführt hat.“ Allerdings seien „historische Parallelen immer ziemlich schwierig“, betonte er.
Gilt alte Bismarck-Erkenntnis weiter?
Die zum Beispiel die in den letzten Jahren von der Bundeswehr an Litauen gelieferten Waffen seien oft nur ausgemusterte alte Modelle. Darauf machte Markus aufmerksam, als er gemeinsam mit Rudolph am 23. Juni in der „Ladengalerie“ der Tageszeitung „junge Welt“ in Berlin das Buch vorstellte. „Die Frage ist: Wie ernst ist dieses Bedrohungsgefühl zu nehmen und ist in der Tat die politische Situation so, dass man diese Rüstungen betreiben müsste?“
Eine mögliche Antwort geben die beiden Autoren gleich zu Beginn ihres Buches mit einem Zitat von Otto von Bismarck: „… führt niemals Krieg gegen Russland. Hofft nicht, dass einmal die Schwäche Russlands ausgenutzt, ihr ewig Dividende erhalten werdet.“ Auf den folgenden 283 Seiten gehen sie auf aktuelle Entwicklungen ebenso ein wie auf historische Ursachen und zeigen, dass Bismarcks Erkenntnis aus dem 19. Jahrhundert weiter gültig ist. Sie bringen zahlreiche Daten und Fakten. Leider fehlen konkrete Quellenangaben zu interessanten Details und Zitaten, die es ermöglichen würden, diese nachzuvollziehen. Rudolph und Markus haben nichtsdestotrotz nach ihren Büchern unter anderem zu Syrien und zur Krim ein weiteres interessantes Werk zu einem aktuellen Konflikt vorgelegt, das Hintergründe und Interessen beleuchtet.
Das komplette Interview mit Ralf Rudolph und Uwe Markus zum Nachhören:
Quelle: Sputnik (Deutschland)