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Interview mit dem Russland-Experten Heinrich Schwabecher

Archivmeldung vom 15.11.2008

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 15.11.2008 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt

Muss sich der Westen vor Russland wieder fürchten? Heinrich Schwabecher, Russland-Experte der Konrad-Adenauer-Stiftung, beruhigt und mahnt zugleich: Russlands Streitkräfte steckten in der Krise, aber ein schwaches Russland sei für den Westen die größere Gefahr.

 Russlands Präsident Medwedew sah in dem Sieg in Georgien den Beweis, dass die russischen Streitkräfte "die Krise der neunziger Jahre überwunden" hätten. Ist dem so?

Heinrich Schwabecher: Nein, das stimmt nicht. Was nach innen wie nach außen als großer Sieg verkauft wurde, hat tatsächlich viele interne Probleme der russischen Streitkräfte offenbart. Die Armee befindet sich in einer tiefen Krise, die in der Amtszeit von Präsident Putin nicht überwunden werden konnte.

Im georgischen Fünftagekrieg kämpften auf russischer Seite -- anders als in Tschetschenien, wo vor allem Wehrpflichtige eingesetzt wurden -- 70 Prozent Zeitsoldaten. Gelingt dem Kreml die Professionalisierung der Armee?

Schwabecher: Es war ein zentrales Ziel des Kreml, bis 2008 70 Prozent der Streitkräfte zur Berufsarmee umzubauen. Allerdings sieht die Zwischenbilanz eher ernüchternd aus. Weil die geplante Quote längst nicht erreicht wurde, kämpften auch Wehrdienstleistende in Georgien, was gesetzlich eigentlich verboten ist. Zudem stieg die Kriminalitätsrate gerade unter den Zeit- und Berufssoldaten in den vergangenen Monaten um mehr als 50 Prozent. Und lediglich 17 Prozent von ihnen wollen ihren Vertrag verlängern. Dies sind keine Indizien für eine Hebung des Ansehens der Streitkräfte.

Damit verliert die Armee die bestausgebildetsten Soldaten?

Schwabecher: Es ist sehr umstritten, ob die Zeitsoldaten wirklich so gut ausgebildet sind. Nach Angaben des ,,Komitees der Soldatenmütter", das seit den neunziger Jahren die Misshandlung von Wehrpflichtigen anprangert, werden viele Rekruten gezwungen, einen Vertrag als Zeitsoldat zu unterzeichnen. Indirekt wird dies von offiziellen Angaben des Verteidigungsministeriums bestätigt, wonach 40 Prozent der Zeitsoldaten ihren Dienst verweigern -- was bei überzeugten Freiwilligen keinen Sinn machen würde.

Setzt Moskau die Einnahmen aus dem Gas-Export ein, um den Sold der Soldaten anzuheben?

Schwabecher: Nein, weil die Finanzkrise Russland mit noch größerer Wucht getroffen hat als die westlichen Staaten. Russlands Reserven sind geschmolzen. Laut russischen Medien schlugen im Oktober die Verantwortlichen für den Bau der Trägerrakete Sojus Alarm. Wenn sie nicht in Wochenfrist Geld aus Moskau bekommen würden, könnten sie die Raketen, die zur Internationalen Raumstation starten sollen, nicht fertigstellen. Wenn sogar strategisch wichtige Projekte unterfinanziert sind, dürfte klar sein, wie wenig bei den Soldaten ankommt.

Die georgischen T-72-Panzer erwiesen sich den russischen T-72 auf Grund ihrer moderneren Ausstattung als überlegen. Sind Russlands Waffensysteme veraltet?

Schwabecher: Über die georgischen und russischen Panzer liegen mir keine Informationen vor. Dennoch zeigte der Kaukasuskrieg Schwachstellen der russischen Streitkräfte. Nach meiner Auffassung ist die Transformation der Streitkräfte unter Putin gescheitert. Moderne Waffen konnte die Armee nicht einsetzen, die Aufklärung war mangelhaft, moderne Kommunikationsmittel fehlten überall -- oft telefonierten die Soldaten mit ihren eigenen Handys. Selbst die schnelle Mobilisierung von 10000 Soldaten, für die das Militär sich feiert, erweist sich bei näherem Hinsehen als Mogelpackung. Tatsächlich wurden bereits im Juli für das Manöver "Kaukasus 2008" acht- bis zehntausend Soldaten an die georgische Grenze verlegt. Das Gros davon marschierte dann im August in Georgien ein. Diese Mängel und nicht die Triumphmeldungen der politischen Elite erklären, warum Medwedew kurz nach dem Kaukasuskrieg eine umfassende Reform der Streitkräfte ankündigte.

Macht diese technologische Rückständigkeit die russischen Streitkräfte zu einem Papiertiger?

Schwabecher: Betrachtet man das nukleare Potenzial, heißt die Antwort: Nein. Bei jüngsten Manövern im Fernen Osten zeigte sich, dass die zum Teil aus den achtziger Jahren stammenden Atomraketen noch einsatzfähig sind. Prompt wurde ihre Einsatzzeit um weitere zehn Jahre verlängert -- auch wenn ihre Sicherheit zumindest fragwürdig ist. Die konventionellen Streitkräfte befinden sich dagegen in einem katastrophalen Zustand. Direkt nach dem Kaukasuskrieg verkündete Präsident Medwedew die umfassenden Militärreformen. Am 26. September 2008 formulierte er fünf Schwerpunkte des Aufbaus der russischen Streitkräfte bis 2020: 1. Bei sämtlichen Streitkräften sollte Einsatzbereitschaft hergestellt werden. 2. Erhöhung der Effektivität der Führungsebene. 3. Verbesserung der Ausbildung. 4. Verbesserung der sozialen Lage von Soldaten und Offizieren. 5. Die Umrüstung und Modernisierung aller Waffensysteme. Zumindest vier der Schwerpunkte Medwedews haben wir bereits als zentrale Punkte der Militärreformen 2001-2005 gesehen. Offenbar hat sich in den zurückliegenden drei Jahren nichts verbessert. Dies belegt das Scheitern von Putins Reform. Im Oktober 2008 stellte Medwedew die zentralen fünf Punkte seines Reformplanes vor: 1. Die Zahl der Soldaten sollte von 1,2 Millionen auf 1 Million reduziert werden. 2. Der Generalstab sollte um 20 Prozent schrumpfen von 1100 auf 880 Generäle. 3. Die Zahl der Offiziere sollte von 300000 bis 2012 auf 150000 halbiert werden. 4. Die Ebene der Unteroffiziere sollte abgeschafft werden. 5. Statt 61 Militärakademien und Hochschulen sollte es nur noch 10 Wissenschaftszentren geben. Diese Reformen stoßen auf Widerstand innerhalb der Streitkräfte und lösten großen Unmut in der Generalität aus. Ob diese Reformen erfolgreich durchgesetzt werden können, darf aus der Erfahrung der letzten Jahre durchaus angezweifelt werden.

Medwedew kündigte an, den Verteidigungshaushalt um 27 Prozent auf 50 Milliarden Dollar zu erhöhen. Reicht dies, um die Schlagkraft zu erhöhen?

Schwabecher: Nein, bei weitem nicht. Zwar steigt das Militärbudget Russlands seit einiger Zeit jährlich um mehrere Prozent. Doch diese Tatsache darf man nicht überbewerten. So belief sich der Etat des russischen Verteidigungsministeriums 2008 auf rund 36 Milliarden US-Dollar. Im selben Zeitraum verfügten die US-Streitkräfte über Mittel von 650 Milliarden Dollar. Betrachtet man die geopolitische Lage Russlands, sind dies äußerst wenig Mittel. Im Süden liegen China, Nordkorea, Afghanistan, Irak und der Iran. Moskau vollführt einen schmerzhaften Spagat zwischen der Begrenztheit seiner Mittel und den strategischen Erfordernissen. Nähme man nur die geopolitische Lage Russlands mit dem immensen Konfliktpotenzial in Zentralasien als Maßstab, müsste das Land ein Militärbudget in US-Dimensionen haben. Zwar ist der Anstieg der staatlichen Rüstungsaufträge immens: Während 2001 noch Systeme für 50 Milliarden Rubel geordert wurden, waren es 2008 solche für 800 Milliarden. Im kommenden Jahr will Moskau 1,3 Billionen Rubel für Waffen ausgeben. Doch trotz dieser bedrohlich wirkenden Ausgabensteigerung misslang Putin die Wende in den Streitkräften. Kein Wunder, bei einer Inflationsrate zwischen sieben und elf Prozent, erhöhten Transport- und Energiekosten und der allgegenwärtigen Korruption.

Vermutlich versickert viel dieser astronomisch wirkenden Summen im korrupten Militärisch-Industriellen Komplex?

Schwabecher: Genau. Allein zwischen Januar und September 2008 stieg die Zahl der Korruptionsdelikte innerhalb der Streitkräfte um 35 Prozent. Zwischen Januar und Juni 2008 wurden 22 Milliarden Rubel verschwendet oder veruntreut. In diesem Zeitraum zählten die Ermittler 1000 Korruptionsstraftaten, von denen 720 durch Offiziere begangen wurden. Dies ist das Problem Nummer 1. Hier spielen sich, vom Wes"ten weitgehend ignoriert, menschliche Tragödien ab: 120000 Offiziersfamilien haben keine Wohnung. Der Sold ist minimal. Unter diesen Bedingungen gedeiht Korruption.

Erweist sich die weitgehende Entmachtung der Duma als Handicap, weil damit ein Kontrollinstrument entfällt?

Schwabecher: Über die Frage, ob eine zivile Kontrolle des Militärs existiert, sind die Experten unterschiedlicher Ansicht. Russen bejahen eine solche Kontrolle, weil die Duma über die Militärausgaben entscheidet. Allerdings dürfen die Abgeordneten nur über die Endsummen abstimmen. Die Verwendung des Geldes, also etwa die Aufteilung auf Unterhalt, Modernisierung oder Neuanschaffungen liegt außerhalb ihrer Einflussmöglichkeiten.

Zeigt die Neuauflage des Raketenschachs mit den USA, dass Moskau nach wie vor im Westen den Hauptgegner sieht?

Schwabecher: Zumindest die Elite sieht in den USA und der NATO eindeutig den Kontrahenten Nummer 1. Aber hinsichtlich Medwedews Antwort auf den US-Raketenschutzschild empfehle ich Gelassenheit. Zunächst mal war das nur ein Vorschlag. Sollte Barack Obama von der Stationierung der Raketen in Polen und Tschechien abrücken, werden die Russen höchstwahrscheinlich auch keine Raketen im Kaliningrader Gebiet aufstellen. Wirklich überraschen konnte der Vorstoß ohnehin nicht, hatte doch der damalige Verteidigungsminister Iwanow schon vor einem Jahr eine asymmetrische, billige Antwort auf die US-Herausforderung angekündigt. Und was ist billiger und effektiver, als die alten Raketen westlicher zu stationieren?

Kann es sich Moskau erlauben, gegenüber der NATO mit starker Symbolpolitik aufzutrumpfen, aber den erstarkenden Rivalen China zu ignorieren?

Schwabecher: Das ist eine sehr gute Frage. Hier fehlt mir das Verständnis, vor allem angesichts des demographischen Problems. Das russische Volk schrumpft. Heute leben in Russland rund 142 Millionen Menschen, 75 Prozent davon im europäischen Teil. 2050 wird es nach optimistischen Schätzungen lediglich noch 100 Millionen Russen geben. Das heißt, in Sibirien und dem Fernen Osten stünden nur noch 25 Millionen Russen hunderte Millionen Chinesen gegenüber, deren Interesse an Russlands Ressourcen wächst. Die Einschätzung im Kreml ist grotesk: China wird als strategischer Partner betrachtet, obwohl die westliche Grenze, wo die NATO steht, die sicherste Grenze Russlands ist. Der Westen darf aber nicht übersehen, dass auch er unter Russlands Problemen leiden wird. Ein schwaches Russland kann dem Vordringen des islamistischen Fundamentalismus aus dem Süden nichts entgegensetzen. Unser Interesse muss also darin liegen, dass Russland ein starker, demokratischer Staat wird.

Das Interview führte Joachim Zießler

Quelle: Landeszeitung Lüneburg

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