Putin und Biden in Genf: Experten bringen es auf den Punkt wer hier gewonnen hat
Archivmeldung vom 18.06.2021
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Freigeschaltet durch Anja SchmittKritiker des Präsidenten Biden in Amerika haben unrecht, so der Generaldirektor des Rates für auswärtige Angelegenheiten Russlands, Andrej Kortunow, wenn sie behaupten, dass er sich beim Gipfel generell als Versager erwiesen habe. Biden hat in dieser Situation sein Bestes getan, indem er seine Position klar genug absteckte. Dies berichtet das russische online Magazin „SNA News“ .
Weiter ist auf deren deutschen Webseite dazu folgendes geschrieben: "Es sei verfrüht, von einer Niederlage Amerikas zu reden, wie übrigens von beliebigen gegenseitigen Zugeständnissen, sagte der Experte in einer Videokonferenz der Nachrichtenagentur Rossiya Segodnya. „Wenn die Beamten und das Militär erst die Arbeit an konkreten Tagesordnungspunkten begonnen haben, dann findet ein wirklicher Handel statt.“
Laut dem Leiter des Moskauer Instituts für die USA und Kanada, Waleri Garbusow, stellt sich bei solchen Gesprächen keine von beiden Seiten das Ziel, über ihren Opponenten zu siegen. „Sonst scheitern sie gleich. Als gelungen lassen sich solche Verhandlungen einstufen, deren Teilnehmer beim Weggehen glauben, dass es sich gelohnt hat, miteinander zu sprechen. Sie denken nicht in den Kategorien von Siegern und Besiegten, sondern in denen des Nutzens und der Wichtigkeit der Verhandlungen. Falls die Arbeit im Sinne von Genf fortgeführt wird, profitieren beide Seiten davon.“
Auch hat sich Putin selbst auf Bidens Worte berufen, es sei kein Sportwettkampf. „Wozu soll man den Punktestand vergleichen? Das Treffen war fruchtbar, gegenständlich, konkret. Es verlief in einer leistungsorientierten Atmosphäre. Das wichtigste Ergebnis ist die Morgenröte des Vertrauens.“ Herbert E. Martin, Präsident des International GeoPolitical Institute (IGPI) in Wien äußerte jedoch, dass Wladimir Putin die Annäherung durch Stärke erreicht und dies brillant verkauft habe. Die Konfrontation bleibe für den Geopolitiker trotzdem bestehen, bestenfalls aufgeschoben, bis Russland wieder etwas tue, was den USA die unipolare Weltherrschaft abspenstig mache.
„Die USA brauchen immer einen Aggressor“, urteilt Herbert Martin, „dann gehts los. Golf von Tonkin war eine Lüge. Dann folgte der Vietnamkrieg. Auch Massenvernichtungswaffen im Irak war eine Lüge, dann kam der Irakkrieg! Der Aggressor wird einfach erfunden. Inszenieren können die USA sehr gut. Bis die Welt drauf kommt, ist es schon im Laufen.“
Waffenkontrolle, strategische Stabilität und Cybersicherheit
Kortunow betonte seinerseits den erfreulichen Umstand, dass der Gipfel gerade jetzt stattgefunden habe, denn Präsident Trump habe anderthalb Jahre gebraucht, bevor er sein erstes und letztes Treffen mit Putin durchgeführt habe. Der russische Politologe würdigte dabei Bidens Administration, die ohne Verzögerung dieses Treffen vorgeschlagen hatte. Seine wichtigste Errungenschaft war laut Kortunow die Wiederaufnahme des Dialogs zur Waffenkontrolle und strategischen Stabilität. „Der START-3-Vertrag ist zwar um fünf Jahre verlängert worden, aber diese Zeit ist knapp für die Lösung der unzähligen neuen Probleme in diesem Bereich: Weltraum-, Cyber- und Hyperschallwaffen, autonome Flugkörper, Mittel für Enthauptungsschlag u. a. m. Es wäre wünschenswert, dass sich die Seiten vor dem Vertragsablauf auf ein neues Modell der Waffenkontrolle einigen.“
Als das spannendste Ergebnis des Treffens stuft Kortunow die Zustimmung der USA zur Aufnahme der Cybersicherheitsprobleme in die Agenda der Gespräche und der Zusammenarbeit ein. Früher lehnten die USA die Bildung einer mit Russland gemeinsamen Expertengruppe zu diesem Thema ab. „Nun ändert sich ihre Position, obwohl ich annehme, dass Bidens Administration wegen ihrer Bereitschaft zu dieser Art Dialog wird Kritik einstecken müssen, vor allem von den konservativen Republikanern. Man muss mit in Kauf nehmen, dass nicht alle sich hinter ihn stellen. Und nicht nur in Washington.“
Es seien viele Fragen angesprochen worden, die von den Seiten unterschiedlich behandelt werden, aber beide Staatschefs haben einfach diese Fragen aufwerfen müssen, ist sich Kortunow sicher. „Es war für Biden wichtig, die Menschenrechte und die Ukraine zu thematisieren. Natürlich kann man dabei mit keiner Einstimmigkeit mit Putin rechnen. Ferner hat das Treffen nichts an der Tatsache geändert, dass unser Verhältnis nach wie vor von Rivalität und sogar von einer gewissen Konfrontation geprägt ist, aber auch einige Elemente der Zusammenarbeit enthält. Aber das Treffen kann sich als erster Schritt zur allmählichen Minderung der Auswirkungen des unkontrollierten Kräftemessens und des Eskalationsrisikos erweisen, das mit diesem Kräftemessen unvermeidlich einhergeht. In den kommenden Monaten werden wir erfahren, ob das gelingt oder nicht.“
Dialog und „selektive Zusammenarbeit“ oder ungeregelte Konfrontation?
Auch Garbusow bewertet das Treffen nur als Start eines Dialogs, von Gesprächen bzw. als Anfang eines Prozesses, der zu einer teilweisen Lösung vieler Fragen führen könne — oder eben nicht. „Falls, wie Biden annimmt, in drei bis sechs Monaten tatsächlich Arbeitsgruppen gebildet und in Einzelbereichen Konsultationen aufgenommen werden, wird man von einer Annäherung reden können. Zwar wird die Konfrontation dadurch nicht beseitigt, auch die Eindämmung bleibt da. Aber die ungeregelte Konfrontation muss einer geregelten weichen.“
Der Experte machte auf einen Aspekt in Bidens Politik aufmerksam: die „selektive Zusammenarbeit“. „Für Russland ist sie ein guter Anhaltspunkt. Es könnte die gleiche Politik der selektiven Zusammenarbeit betreiben, etwa bei der Waffenkontrolle. Biden legt großen Wert darauf zu zeigen, dass selbst vor dem Hintergrund des aktuellen schwierigen Verhältnisses zwischen beiden Ländern seine Administration sich Mühe gegeben hat, ohne bedeutende Zugeständnisse an Russland einen konstruktiven Dialog im Interesse Amerikas anzubahnen. Das erfordert viel Können und den politischen Willen.“
Wird nun auch die EU ihre Russlandpolitik ändern?
Auf diese SNA-Frage antwortete Kortunow, dass die Befürworter der Zusammenarbeit mit Russland es jetzt in gewissem Sinne etwas leichter haben werden, „weil sich die US-Verbündeten unter allen Umständen nach Washington richten. Da Letzteres nach dem Treffen den Dialog aufgenommen zu haben scheint, sehen auch die Europäer den Weg zum Dialog mit Russland für sich offen. Allerdings nicht alle. Die Staatschefs der mitteleuropäischen Länder und des Baltikums gaben ihrer Befürchtung Ausdruck, Biden dürfte seine Gesprächsbereitschaft gegenüber Putin zu weit getrieben haben.“
Dagegen werde es Deutschland, Frankreich und Italien nun psychologisch leichter fallen, neue Formate für die Kontakte vorzuschlagen, merkt der Außenpolitik-Experte an. „Dennoch ist die antirussische Rhetorik in den Nato-Dokumenten vollumfänglich vertreten.“ Der österreichische Geopolitiker Herbert Martin sagt dagegen, dass die EU jetzt das größte Problem habe. „Ungarn und Beitrittskandidat Serbien sehen die Beziehungen zu Russland anders als viele andere in der EU. Vielleicht werden es auch bald Frankreich und Italien nach den nächsten Wahlen machen. Le Pen und Salvini sind im Vormarsch.“
Auf der anderen Seite plädierte Garbusow dafür, Biden nicht mehr als eine komische Figur wahrzunehmen, die stets stolpert, etwas vergisst usw. „Das System der Präsidialmacht ist in den USA so, dass die eventuellen Mängel des Staatsoberhaupts von seinem Umkreis vielfach aufgewogen werden. Dieser besteht bei Biden aus Profis, und das bürgt für eine professionelle Vorgehensweise seiner Administration im Ganzen, was auch die Vorbereitung des Gipfels in Genf zeigte.“
Kortunow forderte auch auf, den eurasischen Raum im Auge zu behalten, der objektiv auf einem östlichen und einem westlichen Fundament beruhe. „Da ist die EU, aber auch die Eurasische Wirtschaftsunion, da ist die Nato, aber auch die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit. Die Kontakte zwischen den zwei Pfeilern des großen eurasischen Raums gibt es, um neue Dimensionen zu bereichern, und man muss sich die Grundsätze überlegen, nach denen ein neues eurasisches Sicherheitssystem aufgebaut werden kann.“
Auch Herbert Martin plädiert dafür, denn: „Europa und Asien wachsen zusammen. Ein riesiger Kontinent, ein riesiger Wirtschaftsraum von Wladiwostok bis Lissabon. Mit der Breitspur quer durch Europa werden neue Transportwege sichtbar. Auch die Nord Passage wird in Zukunft eine wichtige Verbindung von Europa nach Asien und auch nach Amerika sein. Damit hat der Suezkanal nicht mehr die gleiche Bedeutung wie heute. Das kann natürlich die USA nicht dulden.“"
Quelle: SNA News (Deutschland)