Türkei: Orient-Experte Prof. Steinbach erwartet wachsende Spannungen
Archivmeldung vom 15.08.2014
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittEine "neue Türkei" versprach Recep Tayyip Erdogan im Wahlkampf. Nach seinem Sieg mit absoluter Mehrheit ist klar: Er wird sich nicht auf eine repräsentative Rolle beschränken. Erdogan schwebt eine Machtfülle vor, wie sie etwa der US-Präsident hat. Wird Erdogan der Türkei eine radikale Wende verordnen wie einst Staatsgründer Atatürk? Türkei- und Orientexperte Prof. Udo Steinbach hält Erdogan für ambitioniert: "Zum hundertsten Gründungstag der türkischen Republik 2023 will Erdogan eine starke Macht formen, die sich am Islam orientiert."
Präsident in spe Recep Tayyip Erdogan rief zu einem Aussöhnungsprozess auf. Ist er der Mann, dies zu leisten, oder wird sich die Spaltung zwischen der städtischen und der ländlichen Türkei vertiefen?
Prof. Udo Steinbach: Er ist sicherlich nicht der Mann für eine nationale Aussöhnung. Im Gegenteil: Die Spaltungen werden sich vertiefen. Zumal der Regierungsstil von Erdogan als Präsident vorhersehbar ist. Auf der einen Seite wird er autoritär sein, auf der anderen den Islam als Leitbild propagieren.
Gelenkter Staat, Präsidialdemokratie oder Gottesstaat? Wohin wird Erdogan die Türkei führen?
Prof. Steinbach: Wenn Sie das Erdogan selbst fragen würden, wäre klar, wohin er den Staat führen möchte: Nämlich ins Jahr 2023. Zum hundertsten Jahr der türkischen Republik will Erdogan eine ökonomisch und politisch starke, international angesehene Türkei formen. Diesem gigantischen Projekt ordnet er alles andere unter. Im Jahr 1923 definierte sich die Türkei als säkularer Staat, der den Bruch mit dem Osmanischen Reich probte. Hundert Jahre später soll sich eine erstarkte Türkei nach Erdogans Willen in die kulturelle und religiöse Tradition der Türken einordnen.
Plant er sogar den Bruch mit der von Atatürk begründeten säkularen Tradition?
Prof. Steinbach: Das ist nicht sicher. Bisher scheute er vor Schritten in diese Richtung zurück. Auch in Reden, die er in den vergangenen Jahren im arabischen Raum hielt, hat er den säkularen, laizistischen Charakter der Türkei betont. In der jüngsten Vergangenheit brauchte er auch die Unterstützung der Militärs, dieser Garanten des säkularen Staates, deren Einfluss er beschnitten hat. Die Abhängigkeit von den Militärs wird angesichts des unsicheren außenpolitischen Umfelds der Türkei eher noch wachsen. Folglich wird Erdogan sehr behutsam vorgehen und natürlich keine islamische Republik nach iranischem Vorbild begründen. Aber die Gesellschaft soll durch und durch getränkt sein vom Geist und vom Ethos des Islam, so wie Erdogan die Religion versteht.
Als Präsident sind Erdogans Entscheidungen nicht mehr juristisch anfechtbar. Werden Meinungsfreiheit und Gewaltenteilung noch stärker beschnitten?
Prof. Steinbach: Das ist wahrscheinlich. Wer immer ihm auf dem Weg zu seinem großen Ziel, die Türkei bis 2023 zu einer wirtschaftlich prosperierenden regionalen und islamischen Vormacht zu formen, im Wege steht, wird seine Macht zu spüren bekommen - egal, ob dies die Zentralbank, die Opposition oder städtische Jugendliche sind. Zur Verwirklichung seiner Vision ist ein autoritärer Führungsstil angesagt, mit all den Unwägbarkeiten, die dieser mit sich bringt. Denn das Wahlergebnis zeigt, wie polarisiert die Türkei ist: 52 Prozent für Erdogan, 48 Prozent gegen ihn. Dass dies zu politischen Konflikten führen kann, ja, an den Rändern des Parteienspektrums sogar zu politisch motivierten Gewalttaten führen kann, ist wahrscheinlich.
Die AKP hat sich längst von der Reformer- zur Status-quo-Bewegung gewandelt. Droht ihr nun eine Zukunft als reine Akklamationsbewegung für den starken Mann?
Prof. Steinbach: So sieht es im Moment aus. Erdogan hat eindeutig erklärt, worauf er hinauswill: Er strebt eine präsidiale Demokratie an. Bei den Parlamentswahlen 2015, die er möglicherweise sogar vorziehen lässt, ist sein Ziel eine Zweidrittelmehrheit, die ihm die Möglichkeit eröffnet, die Verfassung umzuschreiben. Bis dahin will er die Möglichkeiten der jetzigen Verfassung ausreizen, um sich in die Politik einzumischen. Damit dies gelingt, braucht er als künftigen AKP-Parteichef - den Posten muss er als Präsident aufgeben - und als Ministerpräsidenten lediglich Ja-Sager. Und ob ihm dies gelingt, da muss man ein Fragezeichen setzen. Ist die AKP wirklich bereit, an einer Verfassung mitzuarbeiten, die ein präsidiales System begründet und also ihre Macht schmälert? In den zwei, drei Jahren, die die Verfassungsdiskussion mittlerweile dauert, haben wir aus der AKP auch schon kritische Stimmen gehört.
Verzeihen die konservativen Schichten, denen Erdogan eine Identität gab, ihm jeglichen Korruptionsskandal?
Prof. Steinbach: Ja, weil Erdogan aufkommende Irritationen geschickt auffing, indem er einen Gegenangriff startete. Sein Erklärungsmodell verfing, wonach Kritik nur von Kräften geäußert wurde, die vom Ausland gesteuert wurden - etwa der Hizmet-Bewegung des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen. Auch aus dieser Motivation heraus kann ein autokratischer Regierungsstil begründet werden. Sollte Erdogan zur Demokratie und zur Gewaltenteilung zurückkehren, muss er befürchten, dass die Korruptionsvorwürfe gegen seine Familie wieder auf die Tagesordnung kommen. Und das ist für Erdogan wirklich gefährlich, der sein Charisma auf dem Erscheinungsbild eines frommen Muslim begründet. Sollte sich erweisen, dass unter dem Schutz dieses Charismas eine Korruption erblühte, wie es sie in diesem Ausmaß in der Türkei wahrscheinlich noch nicht gegeben hat, wäre das ein furchtbarer Schlag für alle Kräfte, die versuchen, die Religion für ihre Zwecke zu instrumentalisieren.
Übersteht Erdogan auch eine mögliches wirtschaftliches Schwächeln des anatolischen Tigers?
Prof. Steinbach: Das Schwierigste hat er hinter sich. Nach seinem Wahlsieg hat er erst mal fünf Jahre Zeit. Vielleicht nutzt er das Momentum der Präsidentschaftswahlen sogar noch aus, um schnell hinterhergeschobene Parlamentswahlen auch noch haushoch zu gewinnen.
Erdogans bleibendes Verdienst ist es, die Generäle in die Kasernen zurückgedrängt zu haben. Wird er bei Frauen das Kopftuch zur neuen Uniform erheben?
Prof. Steinbach: Nein, das wird er nicht tun. Aber er wird empfehlen, dass sich dieses gehört. Dass die führenden Vertreter der AKP gerne moralische Ratschläge erteilen, sogar bis zum Rand des Lächerlichen, hat jüngst Vize-Regierungschef Bülent Arinc bewiesen, der den Frauen nahelegte, in der Öffentlichkeit nicht mehr zu lachen, weil das nicht schicklich sei. Von Erdogan ist ein ständiger Appell an seine Landsleute zu erwarten, ihr eigenes Selbstverständnis mit seinem Leitbild eines guten Muslims in Einklang zu bringen.
Wird sich die Türkei bald auch aus dem Vorzimmer der EU verabschieden?
Prof. Steinbach: Das vielleicht nicht. Aber sie wird auf dem Weg vom Vorzimmer in die gute Stube keinen Schritt vorankommen. Die EU wird das Problem haben, mit einem Staatspräsidenten Erdogan verhandeln zu müssen, dessen Taten und Gedanken absolut inkompatibel sind mit Geist und Buchstaben dessen, worauf sich die Europäische Union beruft. Dennoch bleibt die Türkei ein Partnerland in einem extrem sensiblen, derzeit völlig chaotischen geografischen Raum. Selbst wenn beide Seiten die Distanz zwischen der Türkei und Europa nicht verringern wollen, sind sie doch gehalten, eine pragmatische Beziehung zu formen. Die Türkei ist als Sicherheitspartner an der Grenze zu einer Region, die vollständig im Umbruch begriffen ist, unverzichtbar. Dieser Stellenwert des südöstlichen NATO-Mitglieds bleibt auch für Europa sehr hoch.
Im Zuge der Islamistenoffensive in Syrien, dem Irak und dem Libanon wächst die Bedeutung der Kurden. Wie wird Ankara mit dem möglicherweise entstehenden kurdischen Staat im Irak umgehen?
Prof. Steinbach: Bevor sich diese Frage stellt, muss Erdogan zunächst die Frage beantworten, wie er mit den Kurden im eigenen Land umgeht. Kommt es zu einer Lösung der kurdischen Frage innerhalb der Türkei, wäre Erdogan deutlich entspannter mit Blick auf eine kurdische Staatlichkeit im benachbarten Irak. Gelingt dies nicht, weil die Kurden nicht als vollwertige türkische Bürger behandelt werden und die PKK ihre militärische Kampagne gegen Ankara fortsetzt, bleibt jeder kurdische Staat in der Nachbarschaft suspekt, egal, ob er sich in Syrien oder im Irak bildet. Wir werden relativ schnell sehen, wie ernst der neue türkische Präsident die kurdische Frage nimmt. Ich glaube, er wird den Kurden weit entgegenkommen. Schon allein, weil er für die Umgestaltung der Türkei zum präsidialen System und für das Projekt "Türkei 2023" die Kurden braucht. Allein wird die AKP keine Zweidrittelmehrheit erringen. Vermutlich geht der innertürkische Friedensprozess weiter, dies wird eine entspannende Wirkung haben auf die Beziehungen zu dem kurdischen Gebilde, das möglicherweise entsteht.
Scheitert auf dem Weg zur "Türkei 2023" das historische Experiment der Versöhnung von Demokratie und Koran?
Prof. Steinbach: Generell sind Koran und Demokratie nicht unvereinbar. Gerade die ersten Regierungsjahre von Erdogan haben gezeigt, dass man sehr wohl ein guter Muslim sein und sich zugleich auf den Weg in ein demokratisches Europa machen kann. Sollte aber Erdogan seine Agenda 2023 verwirklichen, ist nur noch eine europäisch-türkische Koexistenz außerhalb des Rahmens der Europäischen Union denkbar.
Quelle: Landeszeitung Lüneburg - Das Interview führte Joachim Zießler (ots)