Expertin Dr. Claudia Zilla: Proteste in Brasilien sind nicht nur die Folge von Defiziten, sondern auch von Errungenschaften
Archivmeldung vom 29.06.2013
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittObwohl Präsidentin und Kongress den Forderungen der Demonstranten entgegenkommen, gehen die Proteste in Brasilien weiter. Während sich Brasiliens Fußballer am Mittwoch ins Confed-Cup-Finale schossen, feuerte die Polizei vor dem Stadion mit Tränengas auf vermummte Randalierer. Zugleich protestierten 50000 Demonstranten friedlich gegen Korruption und soziale Missstände. Südamerika-Expertin Dr. Claudia Zilla: "Der Druck auf die Eliten steigt. Die Chance auf einen Demokratisierungsimpuls ist gegeben.
Brasilien gilt oft als Riese, der vor Kraft kaum laufen kann. Steht dieser Riese auf tönernen Füßen?
Dr. Claudia Zilla: Nein, das ist nicht der Fall. Weil die Gründe für die derzeitigen Demonstrationen nicht nur in Defiziten liegen, sondern auch in Errungenschaften der vergangenen zehn Jahre. Es besteht ein demokratischer Kontext, in dem solche Demonstrationen möglich sind. Trotz einiger Ausschreitungen kam es nicht zu Verallgemeinerungen. Sowohl Demonstranten als auch Regierung unterscheiden zwischen gewaltbereiten Randalierern und friedlichen Protestierern. Zwar protestiert dort eine sehr heterogene Gruppe, doch es zeigt sich, dass nicht die Ärmsten der Armen auf die Straße gehen, sondern vielmehr Angehörige der Mittelschicht. Und diese wuchs in den letzten Jahren in Folge der Programme zur Bekämpfung der Armut und der sozialen Ungleichheit. Und diese Mittelschicht macht nun Interessen geltend, die nicht rein materialistischer Natur sind. Es geht nicht um den Ausbau von Sozialprogrammen oder die Steigerung der Kaufkraft, sondern um bessere Bildung, die Aufhebung einer Zwei-Klassen-Medizin, ein funktionierendes Transportwesen und die Bekämpfung der Korruption.
Was unterscheidet die Proteste in Brasilien von jenen in den arabischen Staaten oder der Türkei?
Dr. Zilla: Vieles. Im Vergleich zu den arabischen Staaten und auch der Türkei ist Brasilien eine Demokratie und ein Rechtsstaat besserer Qualität. Zwar gibt es noch Defizite, auf die sich auch die Forderungen der Demonstranten beziehen. Aber dass Brasilien in dieser Hinsicht weiter ist als die Staaten, die einen "Frühling der Revolte" erlebten, zeigt sich auch an der Reaktion der Regierenden. Die Präsidentin Dilma Rousseff reagierte nicht autoritär wie Erdogan, sondern verständnisvoll. Sie nahm die Forderungen ernst, sie nahm sie auf.
Wann hat sich so viel sozialer Sprengstoff in Brasilien aufgehäuft? Ist das noch ein Erbe aus der Zeit als Kolonie oder Militärdiktatur?
Dr. Zilla: Die soziale Ungleichheit ist eine historische. Ohnehin ist Südamerika der Subkontinent mit der größten sozialen Ungleichheit in der Welt. Und sogar in diesem Kontext war Brasilien stets das Land mit der am stärksten ausgeprägten sozialen Ungleichheit. Allerdings konnte der Trend im vergangenen Jahrzehnt umgekehrt werden. Noch in den neunziger Jahren ging das Wirtschaftswachstum mit einer Steigerung der sozialen Ungleichheit einher. Doch ab 2003 wurde das Wachstum genutzt, um Armut und Ungleichheit zu verringern. Und dies, obwohl die brasilianischen Wachstumsraten unterhalb der durchschnittlichen südamerikanischen Rate lagen. Es gibt also eine historisch bedingte, strukturelle Ungleichheit, die aber im vergangenen Jahrzehnt so stark abgebaut wurde wie in keinem anderen lateinamerikanischen Land. Gleichwohl ist sie immer noch viel zu hoch.
Ist diese Verringerung der sozialen Kluft ein Verdienst der Regierung Lula da Silva?
Dr. Zilla: Das ist ein Verdienst von da Silva, von Rousseff und dem immer vergessenen ExRegierungschef Fernando Henrique Cardoso. Der positive Trend setzte mit der Einführung des Real 1994 ein. Das sorgte für wirtschaftliche Stabilisierung und Fiskaldisziplin. Negative Effekte, die diese von IWF und Weltbank durchgesetzten Strukturreformmaßnahmen in anderen lateinamerikanischen Ländern hatten, blieben in Brasilien weitgehend aus. Die Erhöhung der Staatseinnahmen seit Ende der neunziger Jahre setzte Brasilien dann in den Stand, mit aktiver Sozialpolitik die Armut zu verringern. Über dieses Geld konnte Brasilien aber nur verfügen dank wirtschaftspolitischer Entscheidungen, die in der Amtszeit Cardoso wurzelten.
Gefährdet der soziale Sprengstoff den weiteren Aufstieg Brasiliens?
Dr. Zilla: Versteht man unter Aufstieg Brasiliens immer aktivere Rolle auf internationalem Parkett, schaden anhaltende Proteste dem Image Brasiliens, eine Demokratie zu sein, die Wachstum damit verband, die Schwächsten mitzunehmen und in der sozialer Friede herrscht. Nicht zuletzt, weil die Regierung Lula Großereignisse wie die Fußball-Weltmeisterschaft und die Olympischen Spiele ins Land holen konnte, wurde Brasilien zu einer positiven Marke. In dieser Hinsicht hat Brasilien an Renommee eingebüßt. Versteht man unter Aufstieg aber den Sprung vom Schwellenland zu einem Industrieland, das nachhaltige Entwicklung, sozialen Frieden, Rechtsstaat und Demokratie gewährleistet, bedarf es struktureller Reformen -- unabhängig davon, ob die Menschen demonstrieren oder nicht. In diesem Sinne haben die Demonstrationen öffentlichkeitswirksam auf Defizite hingewiesen und die Regierung unter Handlungsdruck gesetzt. So hat das Steuersystem Brasiliens keinen Umverteilungseffekt. Ein Manko, das durch die Sozialprogramme ausgeglichen werden soll. Diese erweitern aber nur den Kreis derjenigen, die staatliche Angebote in Anspruch nehmen können, erhöhen aber nicht die Qualität dieser Angebote.
Strukturelle Reformen hat Präsidentin Rousseff angekündigt, will gegen Korruption vorgehen und in Bildung sowie öffentlichen Nahverkehr investieren. Wird sich die Wut steigern, wenn schnelle Erfolge wie zu erwarten, ausbleiben?
Dr. Zilla: Das ist schwierig einzuschätzen. Weil die Demonstranten keine organisierten Gruppen mit Führern sind, die Forderungen an Zeithorizonte knüpfen könnten.
Ist angesichts derart unorganisierten Protests eher zu erwarten, dass die Fußball-WM im fußballverrückten Land sämtliche Missstände in den Hintergrund drängt?
Dr. Zilla: Ja und Nein. Ja, weil die Weltmeisterschaft die Aufmerksamkeit auf das sportliche Event zieht. Nein, weil natürlich genau so eine Veranstaltung die geeignete Bühne für Proteste ist, die ein weltweites Echo erhalten sollen. Ähnliches erleben wir ja zur Zeit beim Confederations Cup.
Brasilien betont als Gastgeber von UN-Umweltgipfel, Confed-Cup und Fußball-WM seinen Anspruch als regionale Vormacht. Verweigern die Bürger die Gefolgschaft auf diesem Kurs, solange im Innern Korruption, marodes Bildungssystem etc. nicht behoben sind?
Dr. Zilla: Weder in Europa noch in Lateinamerika hat man je mit Außenpolitik Wahlen gewonnen. Nur in ganz besonderen Konstellationen, etwa einem Krieg, erhält Außenpolitik eine innenpolitische Relevanz. Das gestiegene Ansehen Brasiliens in der Welt kann innenpolitische Versäumnisse nicht kompensieren. Zudem ist nicht wirklich wichtig, ob die Bevölkerung dem außenpolitischen Kurs folgt oder nicht. Trotz vergrößerter Einflussmöglichkeiten der Zivilgesellschaft bleibt die Außenpolitik ein Feld der Eliten.
Aber hier wird Außenpolitik doch greifbar: Milliarden Real werden in Stadien investiert statt in Buslinien...
Dr. Zilla: ... Ja, aber die Bürgerinnen und Bürger ordnen dies nicht unter Außenpolitik ein. Sie bemängeln eher eine falsche Prioritätensetzung der Regierung. Zorn ruft etwa hervor, dass in Bezug auf die Fußball-WM lange gesagt worden war, die Investitionen würden von privater Hand erfolgen, und nun muss doch der Staat eingreifen.
Wie groß sind die Chancen von Präsidentin Rousseff, die angekündigte Radikalreform gegen die um ihre Privilegien bangenden Angehörigen des Kongresses durchzusetzen?
Dr. Zilla: Einerseits groß, weil die Präsidentin sehr hohe Zustimmungswerte und ein sehr gutes Image hat. Selbst, wenn die Bürger und Bürgerinnen Korruption beklagen, nehmen sie die Präsidentin aus. Man nimmt auch eher ihr als Lula ab, von Durchstechereien nichts gewusst zu haben. Viele Mitglieder der Zivilgesellschaft und der politischen Elite wollten gar nicht so genau wissen, ob Präsident Lula korrupt ist oder nicht. So beschränkte man sich darauf, Korruption ein Stockwerk tiefer zu bekämpfen. Nicht nur, dass Dilma Rousseff in dieser Hinsicht unverdächtig wirkt, sie gilt auch als durchsetzungsfähige Technokratin. Das steigert die Chancen einer tiefgreifenden Reform. Dagegen spricht allerdings, dass Brasilien nie von einer Partei allein regiert wurde, sondern immer von breiten Koalitionen. Diese sind nur stabil, wenn Konzessionen an viele verschiedene Gruppen gemacht werden. Das führt zu einem Reformstau. Die Chancen einer Reform mindert auch, dass Korruption in Brasilien nicht ausschließlich ein Problem der Politik, sondern der Gesellschaft ist. Korruption ist Teil der politischen Kultur. Und viele, die jetzt gegen bestechliche Politiker demonstrieren, weil es da um große Geldsummen geht, bestechen im Alltag den Polizisten, wenn sie als Falschparker erwischt wurden. Man kann ein gesellschaftliches Phänomen nicht über einen lediglich aus der Politik kommenden Impuls verändern. Noch dazu, wenn dieser Impuls, wie bei dem von Dilma Rousseff vorgeschlagenen Fünf-Punkte-Pakt recht schwammig ist. Konkret ist lediglich die Angabe, dass Royalties, also die Abgaben der Erdölkonzerne an den Staat, in die Verbesserung des Bildungssystems fließen sollen. Die angekündigte Verfassungsreform hat dagegen derzeit noch keine Konturen.
Wie groß ist die Gefahr, dass Reformstau und schwammige Reformziele Rechtspopulisten in die Karten spielen?
Dr. Zilla: Die Gefahr, dass sich jemand zum vermeintlichen Retter aufschwingt, ist eher gering. In Brasilien fehlt im Gegensatz zu anderen lateinamerikanischen Ländern dafür der Nährboden.
Erlebt Brasilien einen Crashkurs in Debattenkultur, der einer weitergehenden Demokratisierung den Weg ebnet?
Dr. Zilla: Es ist nicht auszuschließen, dass die Proteste einen positiven Impuls auslösen. International ist die Lesart dieser Proteste überwiegend negativ, sofern sie mit dem Arabischen Frühling gleichgesetzt werden. Dennoch ist ein Demokratisierungseffekt denkbar. Die Brasilianerinnen und Brasilianer waren selbst überrascht, wie mobilisiert sich ihre Gesellschaft zeigte. Die brasilianische Zivilgesellschaft ist ohnehin stärker organisiert als die meisten ihrer Nachbarn. Unüblich ist nur die Inbesitznahme der Straße. Das erhöht den Druck auf die Eliten. Deshalb wird davon gesprochen, dass der Riese endgültig erwacht sei.
Das Interview führte Joachim Zießler
Quelle: Landeszeitung Lüneburg (ots)