Europa: „Gibt es ein Leben nach dem Tod?“
Archivmeldung vom 15.02.2014
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittExperten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD) veröffentlichten am 11. Februar in Paris ihren Bericht zu Aspekten der Krise, die im Jahr 2007 ausgebrochen war. Im Bericht mit dem vielsagenden Titel „Post mortem“ (Nach dem Tod) geben sie offen die Tatsache zu, dass sie das wirkliche Ausmaß des Geschehens unterschätzt hätten, schreibt Oleg Sewergin bei Radio "Stimme Russlands".
Weiter heißt es dort: "Deshalb seien ihre Prognosen hinsichtlich der Erholung der Wirtschaft in den zur OECD gehörenden 34 Staaten der Welt – hauptsächlich in den europäischen Staaten – zu hoch gewesen. Wissenschaftler und Analytiker warnen heute, dass von einer vollen Überwindung der Krisenfolgen noch keine Rede sein könne.
In dem veröffentlichten Bericht heißt es, eine nachfolgende Analyse habe ergeben, dass das reale Wachstum um 1,4 Prozentpunkte unter den Prognosen gelegen habe. Die „größten Fehler“ in den Prognosen habe es gerade hinsichtlich der Länder der Euro-Zone gegeben, wo die Situation der Gegenstand der besonderen Aufmerksamkeit in aller Welt gewesen sei.
Aber man hätte auch die Auswirkung der Krise auf jene Staaten unterschätzt, heißt es, die den Ereignissen im Ausland und Erschütterungen in anderen Ländern besonders ausgesetzt seien – entweder kraft ihrer Abhängigkeit vom Außenhandel oder wegen des großen Anteils ausländischer Investoren am Kapital der eigenen Banken. Nach den Schlussfolgerungen der Experten der OECD habe man bei der Analyse verschiedenster Krisenaspekte die wachsende Globalisierung der Realwirtschaft und des Finanzsektors nicht ausreichend beachtet. Und deshalb habe man die Auswirkung der Probleme im Bankensektor und die Auswirkung der Zinsänderungen auf dem Schuldenmarkt unterschätzt, stellen die Experten fest.
Dieses offene Eingeständnis der Experten aus einer wichtigen internationalen Organisation wurde vor dem Hintergrund optimistischer Erklärungen, dass Europa und insbesondere die Euro-Zone die Krise überwunden habe und dass ein Aufschwung im Gange sei, wie eine kalte Dusche wahrgenommen. In diesen Tagen warnte der deutsche Finanzexperte Michael Brückner auf den Seiten des europäischen Internet-Portals „EU-Infothek“, davor, dass Europa nach der Europawahl ein „böses Erwachen“ erwarten könne. Wie Brückner sagte, würden sich die europäischen Politiker an den kleinsten Erfolg klammern, um wenigstens den Euroskeptikern etwas Wind aus den Segeln zu nehmen, denen viele gute Chancen bei der Europawahl geben. Aber danach, so resümiert Brückner, würden alle mit den Folgen der noch nicht überwundenen Krise verbundenen Probleme in voller Größe wieder auftauchen.
Dieser Tage bemerkte in Washington die Chefin des Internationalen Währungsfonds, Christine Lagarde, obwohl „Optimismus in der Luft“ liege, sei das globale Wachstum dennoch „zu gering, zu zerbrechlich und zu ungleichmäßig“. Das alles bezieht sich auch auf die Euro-Zone. Wie die IWF-Chefin sagte, sei dort „das Wachstum zu uneinheitlich und die Arbeitslosigkeit viel zu hoch“. Unter den erforderlichen Schritten zur Überwindung der Krisenfolgen in der Euro-Zone nannte sie die Realisierung politischer Reformen in mehreren Ländern, die gezielte Kreditvergabe und die Herstellung einer strengen Kontrolle der Bankentätigkeit.
Der Investitions-Chefanalytiker der russischen Finanzgruppe „Brokerkreditservice“, Maxim Scheïn, verweist auf eine ganze Reihe von Problemen, die es bislang nicht erlauben, optimistische Erklärungen hinsichtlich einer Überwindung der Krisenerscheinungen in den Ländern des geeinten Europas abzugeben.
„Es ist jetzt nicht die Rede von einer neuen Spirale der Finanz- oder Haushaltskrise“, sagt der Experte. „Die Wirtschaft wird sich allmählich erholen. Aber bisher gibt es hierfür keine sichtbaren Bestätigungen. Welchen Indikator man auch nimmt, alle sind schlechter als die Prognosen. Eine Ausnahme bildet Deutschland. Im Scherz sagte man: ‚New York ist nicht Amerika, Moskau ist nicht Russland, und Deutschland ist nicht die Euro-Zone.‘ Na, und wenn man ernst ist, so könnte möglicherweise ein schwacher Kurs des Euro der europäischen Wirtschaft zum Vorteil gereichen.“
Hinsichtlich dieser zuletzt erwähnten Meinung des Experten wird scharf diskutiert. Einen interessanten Standpunkt bezüglich der Krise äußerte in einem Rundfunkinterview die deutsche Journalistin und Autorin des Buches „Der Sieg des Kapitals“, Ulrike Herrmann.
„Es wird ja immer von der ‚Euro-Krise‘ gesprochen, aber in Wirklichkeit sind es viele verschiedene Krisen. Еs ist völlig klar, dass Griechenland, Irland, Spanien, Portugal und wahrscheinlich auch Slowenien überschuldet sind. Dann gibt es eine zweite Krise: das ist, dass die EZB nicht wie eine normale Notenbank funktioniert, zum Beispiel keine Staatsanleihen aufkaufen kann. Dann gibt es eine dritte Krise: die meisten anderen Euro-Länder können nicht mehr gegen Deutschland konkurrieren. Und die vierte Krise, könnte man sagen, ist eine Managementkrise: es sind wahnsinnig viele Fehler gemacht worden.“
Also, welch ein Erwachen hat Europa nach den Wahlen im Mai zu erwarten? Aber wer sagt, dass es bereits in einen Genesungsschlaf gefallen sei?"
Quelle: Text: Oleg Sewergin - „Stimme Russlands"