Großbritannien- und EU-Experte Dr. Nicolai von Ondarza mahnt Europa zu Verhandlungshärte und einer Atempause
Archivmeldung vom 01.07.2016
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittQuo vadis, EU? Erstmals schert mit Großbritannien ein Staat aus dem Verbund aus. In London herrscht Chaos. Boris Johnson traut sich nicht, als Nachfolger von David Cameron den angerichteten Schaden zu beheben. Großbritannien-Experte Dr. Nicolai von Ondarza von der Berliner Denkfabrik SWP mahnt die EU zu Geduld und Verhandlungshärte: "Das Tafelsilber, der Zugang zum Binnenmarkt, darf nicht verschenkt werden, sonst zerbricht die EU." Notwendig sei aber auch ein Signal einer leichten Lockerung der EU. "Es gilt, das Vertrauen der Bürger zurückzugewinnen."
Im Januar haben Sie im Gespräch mit mir bezweifelt, dass Camerons Brexit-Kalkül aufgehen würde. Haben Sie jemals mehr bedauert, Recht gehabt zu haben?
Dr. Nicolai von Ondarza: Ganz klar, ich bedauere, dass die Briten aussteigen wollen. Bis zum Schluss hatte ich gehofft, dass die Briten - wenn auch mit Widerwillen - in der EU bleiben. Nun muss man allerdings von kontinentaleuropäischer Seite mit den Folgen umgehen. Die Briten haben entschieden. Jetzt gilt es, den Ablösungsprozess für alle Beteiligten tragbar durchzuführen.
Fehlte dem Eton-Zögling David Cameron die Bodenhaftung, um zu realisieren, wie erfolgreich sein jahrelanges EU-Bashing im Volk und wie unglaubwürdig seine Volte zum Schluss waren?
Dr. von Ondarza: Cameron ist eine politische Wette eingegangen, dass er die Briten mit Warnungen vor den wirtschaftlichen Folgen eines Brexits noch vom Verbleib überzeugen kann - so wie es ihm 2014 beim Unabhängigkeitsreferendum der Schotten gelungen war. Er hat sich aber sowohl hinsichtlich der Reaktion seiner eigenen Parteifreunde verspekuliert, wo ihm in Boris Johnson ein mächtigerer Rivale als erwartet erwuchs, als auch bezogen auf seine eigene Unglaubwürdigkeit im Volk.
Das Schweigen der Brexit-Protagonisten in den Tagen danach war dröhnend. Wurden Farage und Johnson selbst von dem Erfolg überrascht?
Dr. von Ondarza: Mich hat das Schweigen nicht überrascht, denn in der gesamten Kampagne haben es die Brexit-Frontmänner peinlich vermieden, ein konkretes Konzept vorzulegen, wie sie sich das Dasein Großbritanniens außerhalb der Union eigentlich vorstellen. Sie wussten genau, dass ihre viele Versprechungen nicht umzusetzen sein würden. Großbritannien kann aus der EU austreten, aber nicht aus allen internationalen Beziehungen. Es wird dauern, bis das politische Chaos in London endet und eine handlungsfähige Regierung in Austrittsverhandlungen mit der EU eintreten kann.
Ist glaubwürdig, was kolportiert wird, dass Johnson eigentlich auf eine ehrenvolle Brexit-Niederlage spekuliert hat, die ihn zum natürlichen Nachfolger von Cameron gemacht hätte?
Dr. von Ondarza: Ohne in die Köpfe der Handelnden blicken zu können, scheint Boris Johnson treffend dahingehend charakterisiert zu sein, dass er sich vor allem deswegen auf die Seite der EU-Gegner geschlagen hat, um seine persönlichen Chancen auf die Downingstreet 10 zu erhöhen. Anderenfalls hätte man doch erwartet, dass er in der Monate währenden Kampagne ein Konzept ausgearbeitet hätte, das er im Moment des Sieges aus der Schublade hätte ziehen können. Stattdessen schwieg er, schrieb nur einen Zeitungsartikel, in dem er weiterhin allen Briten unmöglich miteinander zu vereinbarende Versprechen machte. Doch letztlich hat sich Johnson verzockt, weil er seine Versprechen aus der Referendumskampagne nie einlösen könnte. Er hat sich nun aus der Verantwortung gestohlen und tritt noch nicht einmal in der Konservativen Partei für die Nachfolge David Camerons an.
Das Referendum hinterlässt nicht nur ein tief gespaltenes Land, sondern auch eines, in dem Hass in die traditionell gelassene politische Debatte einfärbt. Jo Cox wurde ermordet, es gibt Übergriffe auf Muslime und Polen. Droht eine weitere Radikalisierung?
Dr. von Ondarza: Ich fürchte schon, dass das EU-Referendum die Polarisierung der britischen Gesellschaft extrem vertieft hat. Vor allem in den Städten wird das Referendum in Zweifel gezogen, die Frage wird lauter, ob es nicht wiederholt werden müsste. Das wird die Lager auseinander treiben. Hinzu kommt der Fall Schottland, das für den Verbleib in der EU gestimmt hat, und nun erneut auf Unabhängigkeit von London drängt. Es sind sehr unruhige Zeiten zu erwarten.
Wird Cameron das Zerbrechen zweier Staatenbünde zu verantworten haben?
Dr. von Ondarza: Ich halte es für wahrscheinlicher, dass in zehn Jahren Großbritannien geschrumpft ist und nicht die EU der 27 Staaten. Was Cameron los getreten hat, unterstrich für viele Schotten die Annahme, dass es eigentlich irrelevant ist, wie sich sich in der britischen Demokratie entscheiden - sie werden doch von England überstimmt. Die Schotten fordern jetzt ein neues Unabhängigkeitsreferendum, brauchen aber hierfür die Zustimmung des britischen Parlaments. Es droht ein weiterer Machtkampf für den nächsten Premier.
Inwieweit war das Brexit-Votum innenpolitisch, inwieweit durch die Krisen der EU motiviert?
Dr. von Ondarza: Es gab ein Zusammenspiel dieser Faktoren. Die wichtigsten Argumente der Austrittsbefürworter waren die, die man auch in vielen anderen EU-Staaten hört: Migration und nationale Identität, Vertrauensverlust in die politischen Eliten Westminsters und Brüssels und die Frage der nationalen Souveränität. Das Besondere der britischen Situation lag für mich nur darin, dass dort große Teile der Presselandschaft, gerade der Boulevardpresse, vehement für den Austritt getrommelt haben. Und dass Cameron selbst so lange die EU attackiert hatte, dass er nicht mehr glaubwürdig für einen Verbleib werben konnte.
Ein Riss tat sich unter anderem auch zwischen den Gewinnern der Globalisierung und den Verlierern auf. Erleben die westlichen Gesellschaften derzeit alle eine Revolte gegen die Moderne und das Establishment?
Dr. von Ondarza: Es gibt tatsächlich eine Reihe von Gemeinsamkeiten. Die wichtigste haben Sie schon genannt: Das ist der Verlust des Kontaktes der politischen Elite zu diesem Teil der Bevölkerung. In Großbritannien waren die Ergebnisse eindeutig: Die überwältigende Mehrheit derjenigen, die keine Berufsausbildung und einen schlechten sozialen Stand haben, erklärten sich für den Austritt, während diejenigen mit Universitätsausbildung, gut bezahlten Jobs und Verbindungen zur kosmopolitischen Elite für den Verbleib gestimmt haben. Diese Spaltung ist auch in den anderen europäischen Staaten sowie den USA zu sehen. Das Brexit-Referendum zeigte beispielhaft, wie schwierig es für politische Eliten ist, verlorenes Vertrauen wieder zurückzugewinnen. Es überwog oft die Haltung: Ihr warnt zwar vor negativen Konsequenzen, aber mir geht es bereits so schlecht, dass ich nichts zu verlieren habe.
Die britische Verfassung sorgte über Jahrhunderte für Stabilität auf der Insel. Das Referendum erwies sich als Werkzeug von Demagogen und destabilisierte das Land. Sind Referenden für derart komplexe Fragen ungeeignet?
Dr. von Ondarza: Das ist letztlich eine demokratie-theoretische Frage. Ich persönlich bin der Auffassung, dass für derart komplexe Probleme die repräsentative Demokratie, also die Willensbildung über Parlamente, die die Interessen des Volkes vertreten, aber auch erfolgreicher für einen Interessenausgleich sorgen können, besser geeignet sind. Allerdings stieg die EU-Mitgliedschaft in Großbritannien im Laufe der Jahre zu einer Grundsatzfrage auf, bei der die Bevölkerung mitbestimmen wollte. Cameron ist zwar mit dem Referendum ein hohes Risiko eingegangen, doch in der aufgepeitschten Atmosphäre blieb ihm langfristig kaum eine andere Wahl. Die Fehler wurden früher gemacht.
London möchte sich in Brexit-Vorverhandlungen schon die Rosinen sichern. Der Kontinent winkt ab. Wie muss sich die EU positionieren: Unnachgiebig ein Exempel statuieren oder versöhnlich das Porzellan kitten, das die Briten zerbrachen?
Dr. von Ondarza: Man muss einen Mittelweg finden. Es ist klar, dass die EU ihr größtes Privileg, den Zugang zum Binnenmarkt, nicht leichtfertig Großbritannien einräumen kann. Wenn Nicht-Mitglieder in den Genuss aller Vorteile kämen, würde die EU ihre eigene Geschäftsgrundlage in Frage stellen. Die klare Ansage der EU-Staatschefs bedeutet für Großbritannien, dass das Land wirtschaftliche Nachteile zu erwarten hat. Das war den Bürgern aber vor der Abstimmung klar gemacht worden. Die EU muss mit sehr viel strategischer Geduld in die Verhandlungen gehen. Das sind keine Fragen, die in wenigen Wochen oder Monaten beantwortet werden können, deshalb halte ich auch die Forderung nach einer möglichst schnellen Trennung für illusorisch. Das Ganze wird Jahre dauern. Zudem muss die EU den Briten klare Bedingungen nennen. Wenn sie einen Zugang zum Binnenmarkt haben wollen - wie etwa Norwegen - müssen sie auch dieselben Bedingungen erfüllen. Das bedeutet etwa für Oslo die Akzeptierung und Umsetzung von EU-Recht ohne eigenes Mitspracherecht, einschließlich der von den Tories so heftig angefeindeten Personenfreizügigkeit - und Einzahlungen in den EU-Haushalt. Das sind harte Bedingungen, aber das ist die Wahl, vor der London dann stehen sollte. Alles andere würde auf eine Selbstaufgabe der EU hinauslaufen.
Zwar verlässt nun der Bremser einer europäischen Integration den Geleitzug, doch auch in den verbliebenen 27 Staaten erlebt der Nationalismus eine Renaissance. Es mangelt an Solidarität. Ist Churchills Vision der Vereinigten Staaten von Europa endgültig gescheitert?
Dr. von Ondarza: Wir sind dabei, uns von der Idee einer immer engeren Union zu verabschieden, die irgendwann auf eine Art Bundesstaat hinausliefe. Denn die Debatten haben gezeigt, dass offenbar auch in anderen Mitgliedsstaaten sowohl bei der Bevölkerung als auch bei den politischen Eliten das Limit hinsichtlich einer weiteren Integration erreicht ist. Ich gehe daher davon aus, dass das Brexit-Referendum als Stopp-Signal gesehen wird. Zunächst muss das Vertrauen der Bürger zurückgewonnen werden, bevor man an weitere Integrationsschritte geht.
Könnte dies gelingen, indem die EU den sozialen Sprengstoff in ihren Mitgliedsländern entschärft?
Dr. von Ondarza: Das ist ein wichtiger Bestandteil. Als große Bürde trägt die EU mit sich herum, dass es ihr in den letzten Jahren nicht gelungen ist, die großen Herausforderungen in der Eurozone und dem Schengenraum zu meistern. Es reicht nicht nur, Europa besser zu erklären, man muss es besser machen. Extrem wichtig ist dabei in der Tat, die negativen Folgen europäischer Integration sozial besser abzufedern. Nur dann könnten die Bürger erkennen, dass der Verbleib in der EU Vorteile hat. In Großbritannien gelang das nicht, aber diese Debatte werden wir bald beispielsweise auch in Frankreich und den Niederlanden führen müssen.
Muss sich das Staatenbündnis vertiefen oder lockern, um skeptische Bürger nicht zu verschrecken?
Dr. von Ondarza: Es ist ein Signal einer ganz leichten Lockerung notwendig. Gefolgt von dem Nachweis, dass die EU auf dem erreichten Stand der Integration in der Lage ist, Probleme zu lösen. Eine Flucht nach vorne mit neuen Integrationsschritten würde in einigen Völkern heftige Gegenreaktionen auslösen und die Gefahr vergrößern, dass die EU auseinander bricht.
Haben die sechs Außenminister den Weg vorgezeigt: Die Gründungsstaaten als Kern mit mehr oder weniger fest angedockten Satelliten?
Dr. von Ondarza: Ich denke, das Treffen hat am Tag nach dem Referendum das falsche Signal ausgestrahlt. Es wuchs in einigen Mitgliedsstaaten die Besorgnis, dass nun ein Kern für die Gesamt-EU die Entscheidungen fällt. Was wir brauchen, sind gemeinsame Entscheidungen aller EU-27. Nicht ausgeschlossen wäre damit, dass sich freiwillig kleinere Gruppen bilden, um auf einzelnen Feldern Europa voranzubringen.
Das Interview führte Joachim Zießler
Quelle: Landeszeitung Lüneburg (ots)