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Thierry Meyssan: Syrien hat sich gewandelt

Archivmeldung vom 04.11.2013

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 04.11.2013 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt
Syrien: Zerstörter Straßenzug in Homs
Syrien: Zerstörter Straßenzug in Homs

Foto: Bo yaser
Lizenz: CC-BY-SA-3.0
Die Originaldatei ist hier zu finden.

Die Medienberichterstattung über den Krieg in Syrien beschäftigt sich nur mit diplomatischen, militärischen und humanitären Aktionen. Sie lässt die tief greifende Umgestaltung des Landes beiseite. Jedoch überlebt man diesem Ozean von Gewalt nicht ohne sich tief zu ändern. Thierry Meyssan beschreibt diese Entwicklung aus Damaskus, wo er zwei Jahre lang lebte.

Thierry Meyssan berichtet: "Auf seiner Durchreise in Damaskus hat der Sondergesandte der Generalsekretäre der Arabischen Liga und der UNO, Lakhdar Brahimi, „sein“ Projekt der Friedenskonferenz Genf 2 vorgestellt. Eine Konferenz, deren Ziel wäre, dem “Bürgerkrieg” ein Ende zu setzen. Dieser Begriff greift wieder die Analyse von einem Lager gegen das andere auf, von jenen, die behaupten, dass dieser Konflikt eine logische Erweiterung des “Arabischen Frühlings” sei, gegen jene, die behaupten, dass es fabriziert, geschürt und von außen manipuliert wurde.

Der Krieg aus Sicht der bewaffneten Opposition

Für den Westen und den Großteil der Nationalen Koalition macht Syrien eine Revolution durch. Sein Volk hat sich gegen eine Diktatur erhoben und wünscht nichts sehnlicher, als in einer Demokratie wie in den Vereinigten Staaten zu leben. Allerdings wird diese Sicht der Dinge durch den Golf-Kooperationrat [GCC], den Syrischen Nationalrat und die Freie Syrische Armee [FSA] widerlegt. Für sie liegt das Problem nicht in der Freiheit, sondern in der Persönlichkeit von Baschar Al-Assad. Sie würden sich mit denselben Institutionen begnügen, wenn der Präsident akzeptierte, seinen Platz einem der Vizepräsidenten der Kommission abzutreten. Diese Version wird jedoch ihrerseits von den Kriegern auf dem Boden zurückgewiesen, für die das Problem nicht in der Persönlichkeit des Präsidenten liegt, sondern in der Toleranz, die er verkörpert. Ihr Ziel ist ein Regime wahhabitischer Prägung, in dem religiöse Minderheiten unterworfen oder zerstört würden und in dem die Verfassung durch die Scharia ersetzt würde.

Meinungsfreiheit

Am Anfang, als Scharfschützen Leute umbrachten, wurde gesagt, es wären Schützen des Regimes, die versuchten, Panik zu verbreiten. Als Autos explodierten, hieß es, es handle sich um Attentate unter falscher Flagge der Geheimdienste. Als in einem gigantischen Attentat Mitglieder des Sicherheitsrates ums Leben kamen, wurde Baschar Al-Assad beschuldigt, seine Rivalen beseitigt zu haben. Heute zweifelt niemand mehr daran: diese Verbrechen waren das Werk von Dschihadisten und sie hören auch nicht auf, diese weiter zu begehen.

Zu Beginn gab es das Notstandsgesetz. Seit 1963 waren die Demonstrationen verboten. Ausländische Journalisten konnten nur tröpfchenweise einreisen und ihre Aktivitäten wurden genau überwacht. Heute ist das Notstandsgesetz aufgehoben. Es gibt immer noch wenige Demos, weil man terroristische Anschläge befürchtet. Viele ausländische Journalisten sind in Damaskus. Sie bewegen sich frei ohne Aufsicht. Die meisten erzählen noch immer, dass das Land eine schreckliche Diktatursei. Man lässt sie in Ruhe, in der Hoffnung, dass sie der Lügen müde würden, wenn ihre Regierungen nicht mehr den “Sturz des Regimes“ predigen.

Am Anfang schauten die Syrer nicht die nationalen Fernsehsender. Sie betrachteten sie als Propaganda und bevorzugten Al-Dschasira. Somit folgten sie live den Heldentaten der “Revoluzzer” und den Verbrechen der “Diktatur”. Aber im Laufe der Zeit wurden sie direkt in die Ereignisse verstrickt. Sie sahen mit eigenen Augen die Gräueltaten der Pseudo-Revolutionäre und oft verdankten sie ihre Rettung nur der nationalen Armee. Heute wählen die Menschen viel mehr das nationale Fernsehen und vor allem einen Libanesisch-irakischen Kanal namens Al-Mayadeen, der das Publikum in der gesamten arabischen Welt von Al-Dschasira gewonnen hat und der eine offene nationalistische Perspektive entwickelt.

Gewissensfreiheit

Am Anfang bezeichnete sich die bewaffnete Opposition als multi-konfessionell. Menschen aus religiösen Minderheiten unterstützten sie. Dann kamen die islamischen Gerichte, welche die “schlechten” Sunniten, “Verräter” ihrer Gemeinschaft, zum Tode verurteilten und ihnen den Hals abschnitten. Sie folterten öffentlich Alewiten und die Schiiten und vertrieben die Christen aus ihren Häusern . Heute hat jeder verstanden, dass man immer ketzerisch ist, wenn man von den “Reinen”, von Takfiristen, verurteilt wird.

Während Intellektuelle behaupten, dass Syrien zerstört wurde und dass man es neu definieren müsste, wissen die Leute, was Syrien wirklich ist und sind oft bereit, für das Land zu sterben. Vor zehn Jahren hatte jede Familie einen Jungen, für den sie alles versuchte, um ihm den Militärdienst zu ersparen. Nur die Armen erwogen, unter der Fahne Karriere zu machen. Heute engagieren sich viele junge Leute in der Armee und die älteren in den Volks-Milizen. Alle verteidigen das ewige Syrien, wo verschiedene religiöse Gemeinschaften in Berührung kommen und sie alle den gleichen Gott anbeten, wenn sie einen haben.

Während des Konflikts haben viele Syrer sich selbst weiter entwickelt. Zunächst beobachteten sie zum Großteil die Ereignisse aus der Ferne und behaupteten, sich in keinem Lager zu erkennen. Nach zweieinhalb Jahren fürchterlichen Leidens mussten diejenigen, die im Land geblieben waren, wählen, um am Leben zu bleiben. Der Krieg ist nur mehr ein Versuch der Kolonialmächte, die Glut des Obskurantismus zu schüren, um die Zivilisation zu verbrennen.

Politische Freiheit

Für mich, der Syrien seit zehn Jahren kennt und seit zwei Jahren in Damaskus lebt, hat sich das Land sehr verändert. Vor zehn Jahren erzählte jeder flüsternd seine Probleme, die er mit den Mukhabarats hatte, die sich in alles und jedes einmischten. In diesem Land, dessen Golan von Israel besetzt ist, hatte der Geheimdienst in der Tat eine extravagante Macht erworben. Aber er hat nichts gesehen und wusste nichts von der Vorbereitung des Krieges, von den Tunneln, die gegraben wurden und den Waffen, die man einschmuggelte. Heute ist eine große Anzahl von korrupten Offizieren ins Ausland geflohen, und die Mukhabarats haben sich auf ihre Mission des Heimatschutzes konzentriert: nur die Dschihadisten beklagen sich darüber.

Vor zehn Jahren war die Baath-Partei verfassungsrechtlich Führer der Nation. Sie allein durfte Kandidaten bei den Wahlen stellen, aber sie war schon keine Massen-Partei mehr. Die Behörden bewegten sich allmählich von den Bürgern weg. Heute ist es schwer, den zahlreichen Geburten von neuen politischen Parteien zu folgen. Jede kann an den Wahlen teilnehmen und gewinnen. Nur die “demokratische” Opposition hat von Paris und Istanbul aus beschlossen, sie zu boykottieren, anstatt sie zu verlieren.

Vor zehn Jahren sprach niemand über Politik in den Cafés, nur zuhause, mit Menschen die man kannte. Heute spricht jeder über Politik, überall, in den von der Regierung kontrollierten Gebieten und niemals in jenen, die von der bewaffneten Opposition kontrolliert sind.

Wo ist die Diktatur? Wo ist die Demokratie?
Klassen-Reaktionen

Der Krieg ist auch ein Klassen-Konflikt. Die Reichen, die Vermögenswerte im Ausland haben, sind verschwunden, als Damaskus angegriffen wurde. Sie liebten ihr Land, aber schützten vor allem ihr Leben und ihr Eigentum. Die Bourgeoisie war terrorisiert. Sie zahlten „revolutionäre Steuern“, wenn die Aufständischen sie forderten, und behaupteten, den Staat zu unterstützen, wenn die Armee sie verhörte. Besorgt warteten sie auf den Rücktritt von Präsident Al-Assad, den Al-Dschasira als unmittelbar bevorstehend angekündigt hatte. Sie kamen aus ihrer Angst erst heraus, als die USA aufgaben, das Land zu bombardieren. Heute denken sie nur daran, alles wieder gut zu machen, und finanzieren die Familien-Verbände der Märtyrer.

Die kleinen Leute wussten ja von Anfang an, worum es ging. Es gab jene, die im Krieg ein Mittel sahen, um Rache an ihrer wirtschaftlichen Lage zu nehmen, und diejenigen, die die Gewissensfreiheit und die kostenlosen öffentlichen Dienste verteidigen wollten.

Die USA, Israel, Frankreich, Großbritannien, die Türkei, Katar und Saudi-Arabien, die diesen geheimen Krieg geführt und verloren haben, haben dieses Ergebnis nicht vorausgesehen: um zu überleben, hat Syrien seine Energien entfaltet und seine Freiheit wiedererlangt.

Falls die Genf 2-Konferenz stattfindet, werden die Großmächte nichts entscheiden können. Die kommende Regierung wird nicht das Ergebnis einer diplomatischen Vereinbarung sein. Die einzige Möglichkeit der Konferenz wird sein, eine Lösung vorzuschlagen, die nur angewendet werden kann, wenn sie zuerst per Volksabstimmung ratifiziert worden ist.

Dieser Krieg hat Syrien ausgeblutet, die Hälfte der Städte und der Infrastruktur sind zerstört worden, um den Appetit und die Fantasien der westlichen Mächte und der Golfstaaten zu stillen. Wenn etwas Positives aus Genf 2 entstehen sollte, wäre es die Finanzierung des Wiederaufbaus durch diejenigen, die das Land ins Unheil gestürzt haben.

Quelle: Al-Watan (Syrien) "politaia.org" (Übersetzung: Horst Fröhlich)

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