Konfliktforscher Prof. Joachim Kersten zu den Krawallen in Großbritannien
Archivmeldung vom 19.08.2011
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittDavid Cameron macht "moralischen Verfall" als Ursache der Krawalle aus. Dabei hatte der Premier aber nicht die Skandale seiner Schicht, der Oberschicht, im Kopf. "Widerwärtig" nennt Kriminologe Prof. Joachim Kersten von der Hochschule der Polizei solche Schuldzuweisungen. Er macht Rassismus, Werteverfall und falsche Polizeitaktik auf der Insel aus.
Haben Krawalle wie die in England Ventilfunktion, über die Klassengesellschaften aufgestauten Hass entladen? Prof. Joachim Kersten: Nur bedingt. Es kommt nicht zu einer wirklichen Entladung, die -- wie bei einem Gewitter -- auch das Problem beseitigen würde. Eines der Probleme, die zu den Ausschreitungen in England führten, ist die wahrgenommene Polizeibrutalität. Wie in Frankreich, Spanien und den USA besteht dieses Problem auch in Großbritannien und liefert oft genug den Zündfunken für Aufruhr. Ein weiteres Problem ist die Unzufriedenheit der Jugendlichen -- und nicht nur der diskriminierten Minderheiten -- in vielen Ländern Europas mit den fehlenden beruflichen Perspektiven. Mit einer Jugendarbeitslosigkeit von fast 50 Prozent und Akademikern ohne Chance auf einen Job, wie derzeit in Spanien, besteht ein hohes Frus"trationspotenzial. Das löst sich nicht bei Randale auf. Das dritte Problem ist die Art, in der der Staat reagiert. Das Vorgehen in England ist nicht geeignet, die Straße zu befrieden.
Kommt nicht als viertes Problem hinzu, dass es in England wie in Frankreich noch eine abgehängte Schicht unter der Unterschicht gibt? Prof. Kersten: Das ist richtig. So waren die Proteste in Spanien und Israel friedlich und phantasievoll wie die Sit-ins zur Flower-Power-Zeit. Wo allerdings diskriminierte Minderheiten mit anderer Hautfarbe und fremdartigen Namen leben, haben wir einen Nährboden für Rassismus -- wie in Frankreich und Großbritannien.
Rächt sich der gewonnene Krieg für die Briten? Nach dem Sieg war es leichter, an überkommenen Klassenstrukturen festzuhalten? Prof. Kersten: Möglich, wobei Frankreich nach 1945 weitaus stärker zu einem Neuanfang gezwungen war -- und er dennoch misslang. Das Perfide am Rassismus in den postkolonialen Gesellschaften ist, dass er subtiler daherkommt als etwa im Südafrika der Apartheid-Ära. Gegen offenen Rassismus können sich die Betroffenen besser wehren als gegen den versteckten, homöopathisch daherkommenden. Wessen Name arabisch klingt und wer aus Nordafrika stammt, hat auf dem französischen Arbeitsmarkt gegen einen ,,Dupont" mit gleichem Schulabschluss keine Chance. Pakis"tanischstämmige Briten mit dunklerer Hautfarbe werden am Bahnhof häufiger kontrolliert als bleiche Briten. Da nutzt ihnen der richtige Pass auch nicht wirklich. Die schmerzhaften, dunklen Seiten unserer Geschichte haben hierzulande zumindest zu graduellen Verbesserungen im Kurs gegenüber Minderheiten geführt. Postkoloniale Gesellschaften fühlen sich dagegen gegenüber solchen Ansinnen eher erhaben. Die Eliten dieser Länder stellen sich dieser Prob"lematik einfach nicht.
Sie schrieben, Plünderungen geschehen nach Krawallen in einer Partyatmosphäre, sind eine moralische Auszeit. Entsprechen sie somit dem Karneval im Mittelalter? Prof. Kersten: Das ist heute noch so in Köln oder in der Konstanzer Fasnacht. Es heißt ja nicht umsonst der "schmotzige Dunschtig". Plündern ist ein Akt der Missachtung von Obrigkeit. Zudem, weil Eigentum durch die Krawalle bereits beschädigt ist, bei gesunkener Hemmschwelle. Deshalb beteiligen sich auch Leute daran, die das vom sozialen Status gar nicht nötig haben, stehlen zudem Sachen, die sie gar nicht brauchen. Der New Yorker Blackout von 1977 nach einem Stromausfall zeigte das klassische Muster des Plünderns und Brandschatzens auf: Erst treten professionelle Kriminelle auf die Szene, dann Jugendgangs, dann Bürger wie du und ich.
Unter welchen Bedingungen werden aus Brandschatzungen und Plünderungen Pog"rome? Prof. Kersten: Bei Pogromen haben wir andere Machtverhältnisse. Es ist die Mehrheit, die ihre Wut an wehrlosen Menschen der Minderheit auslässt. Beispiele sind die antisemitischen Exzesse in Osteuropa im 19. Jahrhundert. Hier plünderte, vergewaltigte und mordete der Mob. Dementgegen wurde der millionenfachen Massenmord in Deutschland auf dem Verwaltungswege vollzogen -- als industrialisiertes Töten.
Verbietet sich Alarmismus in Deutschland, weil es hier -- anders als in Frankreich und England -- keine abgehängte Unterschicht noch unterhalb der Unterschicht gibt? Prof. Kersten: Die Migrantenunterschicht bildet in Deutschland schon noch eine Schicht unterhalb des deutschen Prekariats. Unter ungünstigsten Bedingungen kann ich mir auch in Einwandererwohngebieten deutscher Großstädte ähnliche Proteste vorstellen, Ausmaße bei der Gewalttätigkeit wie in den Pariser Banlieus oder in Tottenham halte ich aber für unwahrscheinlich.
Was unterscheidet unsere Integrationsprobleme von denen Englands? Prof. Kersten: Dass sie nicht postkolonialistischer Natur sind. Die Zuwanderer kamen auf der Suche nach Arbeit, blieben hier und bauten hier ihre Infrastruktur auf. Hier liegt noch ein Unterschied: Die Wohngebiete ethnischer Minderheiten sind in Deutschland nicht so von den Zentren der Städte abgehängt wie die in Großbritannien oder Frankreich. Zudem bemüht sich die Polizei in Deutschland seit einem knappen Jahrzehnt, in die Infrastruktur dieser Viertel hineinzukommen. Aber nicht in Uniform oder paramilitärisch, also quasi als Besatzungsmacht wie in Frankreich. Sondern, indem die Beamten sich am Eingang einer Moschee die Schuhe ausziehen, indem sie Tee trinken mit Gemeindevorstehern, indem sie versuchen, Probleme bereits im Vorfeld zu lösen. Was in Mannheim, Berlin oder Hamburg passiert, ist das genaue Gegenteil des "Auskärchern"-Kurses Sarkozys und der bisherigen Antworten David Camerons. Den amerikanischen Null-Toleranz-Verfechter William Bratton aus den USA zu engagieren, ist ein Versuch Camerons, sich selbst als härtesten Rambo zu stilisieren.
Großbritanniens Politiker reagierten trotz Warnungen über eine immer größere soziale Kluft überrascht. Glaubte London der Lebenslüge des Finanzkapitalismus vom Wohlstand für alle? Prof. Kersten: Zunächst mal sorgten sie dafür, dass sich ihr eigener Wohlstand mehrt -- in einer Weise, die den Begriff Beschaffungskriminalität rechtfertigt. Es ist besonders widerwärtig, dass Menschen, die moralisch nicht integer sind, jetzt mit dem Finger auf die alleinerziehenden Mütter zeigen und ihnen die Schuld an den Aufständen zuweisen. Zwar ist es richtig, dass in den Vierteln mit vielen zerbrochenen Familien die kriminelle Schattenökonomie blüht, aber das ist wohl am wenigsten die Schuld der Mütter.
Ahmen die Jugendlichen bei ihrem Raubzug die Beschaffungskriminalität nach, die Broker, Banker und Politiker am anderen Ende des Spektrums vormachen? Prof. Kersten: Ja, aber in Trinkgelddimensionen. Die teuersten geplünderten Elektrogeräte mögen vielleicht 1500 Pfund gekostet haben. Das sys"tematische Abgreifen des Steuerzahlers erreicht natürlich ganz andere Dimensionen. Der Schaden durch Weiße-Kragen-Kriminalität übersteigt den der Straßenkriminalität immer um ein Vielfaches.
Wird eine moralische Auszeit erleichtert, wenn eine Gesellschaft sich in Korruptionsskandalen suhlt? Prof. Kersten: Sicher. Wenn die Politik selbst nicht über die Selbstreinigungsmechanismen verfügt, die sie von der Unterschicht erwartet, müssen Appelle ungehört verhallen.
Was kann derartige Gewaltausbrücke verhindern: politische Teilhabe, Bildung, mehr Polizei oder Jobs? Prof. Kersten: Die beste Kriminalpolitik bleibt eine gute Sozialpolitik. Gute Polizeiarbeit heißt, tragfähige Kontakte zu den Bewohnern der Problemviertel aufzubauen, um bereits bei lediglich virulenter Kriminalität gegensteuern zu können. Nur dann kann man bloße Strafandrohungen mit phantasievolleren Maßnahmen ersetzen. Dazu müssten verantwortliche Innenminister aber ihren Horizont über die bloße betriebswirtschaftliche Betrachtung von Polizeiarbeit hinaus erweitern. Der Ruf nach Bildung bleibt soziologisches Gefasel, wenn man nicht anerkennt, dass die meisten dieser Kinder gar nicht mehr beschulbar sind. Solange sie ihren sozialen Status eher über Drogen- und Gewaltkriminalität sichern können als über einen guten Schulabschluss, kann es nicht gelingen, sie für den Blick in Bücher zu begeis"tern.
Quelle: Landeszeitung Lüneburg (Das Interview führte Joachim Zießler) / (ots)