Sicherheitsexperte Dr. Overhaus: Konflikte in der NATO über gerechte Lastenverteilung haben sich noch verschärft
Archivmeldung vom 26.05.2012
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittZwar suggerierte die NATO auf dem Gipfel in Chicago Einigkeit, doch das überzeugt Dr. Marco Overhaus, Sicherheitsexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik, Europas größter außenpolitischer Denkfabrik, nicht: "Die Konflikte innerhalb des Bündnisses wurden nicht beigelegt, manche, etwa über die Lastenverteilung, haben sich sogar noch verschärft."
Schon die Balkankriege, in jüngerer Zeit aber auch der Arabische Frühling zeigten Lücken im Instrumentenkasten der EU. Sind die EU-Battlegroups geeignet, diese Lücken zu schließen?
Dr. Marco Overhaus: Die Battlegroups haben einen gewissen Beitrag geleistet, um die sicherheits- und verteidigungspolitische Zusammenarbeit in Europa zu intensivieren. Man muss aber auch feststellen, dass die Battlegroups wenig dazu beigetragen haben, die Effektivität der gemeinsamen verteidigungspolitischen Anstrengungen Europas zu steigern. Das liegt wesentlich zum einen daran, dass es bisher aus politischen Gründen noch keinen Einsatz dieser Battlegroups gegeben hat. Außerdem bieten die Battlegroups für sich genommen auch keine Antwort auf die breitgefächerten zentralen Probleme europäischer Sicherheits- und Verteidigungspolitik: Da gibt es zum einen eine strategische Unklarheit. Man weiß nicht genau, was die genauen Ziele der Kooperation sind. Diese leidet zudem an mangelhaften militärischen Fähigkeiten und am generellen Bedeutungsverlust des Militärs in Zeiten einer Staatsschuldenkrise.
Multinationaler Aufbau, gemeinsame Verantwortung: Sind die Battlegroups nicht ideale Vorreiter einer europäisierten Sicherheitspolitik?
Dr. Overhaus: Die Battlegroups führen zumindest dazu, dass innerhalb Europas mehr Gemeinsamkeit hergestellt wird, mehr Verständnis für nationale Eigenheiten der Partner, mehr gemeinsame Konzepte, mehr Interoperabilität. Aber das allein reicht nicht aus, um die Politik der Europäischen Union im Bereich der Sicherheitspolitik effektiver zu machen. Aus Sicht der Außenwelt üben die Battlegroups insofern keine Vorreiterrolle aus. Schnelle Verfügbarkeit, großer Einsatzradius: Will die EU mit den Battlegroups der NATO als Weltpolizist Konkurrenz machen? Dr. Overhaus: Das sehe ich nicht so. Zum einen haben EU und NATO zum größten Teil überlappende Mitgliedschaften. Zum anderen sind auch die Zielsetzungen im sicherheitspolitischen Bereich weitgehend identisch. Es käme nur zu einer Konkurrenzsituation, wenn beide Institutionen gleichzeitig einen Einsatz beschließen würden. Dann müssten die betroffenen Nationen abwägen, welchen Einsatz sie bevorzugen. Die vermeintliche Konkurrenz von EU und NATO wird in der Debatte künstlich herbeigeredet.
Dänemark verzichtet auf Panzer, Großbritannien auf Erdkampfflugzeuge: Zwingt der Rotstift die Europäer zu einer arbeitsteiligen Rüstungspolitik?
Dr. Overhaus: In der Tat müsste die Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise zu einer Intensivierung der rüstungspolitischen Zusammenarbeit führen. Aber das passiert bisher interessanterweise lediglich in Ansätzen. Auch auf diese Herausforderung bieten die Battlegroups keine befriedigende Antwort, denn sie haben weder zu neuen Rüstungskooperationen noch zu Neuanschaffungen geführt.
Woran hapert es bei der Ausrüstung der EU-Truppen?
Dr. Overhaus: Auch abseits der Battlegroups gibt es einige Defizite bei den strategischen Fähigkeiten: Schon traditionell zählt dazu der Lufttransport über längere Distanzen. Ebenso gibt es Defizite bei der Luftbetankung, der Kommunikation und der Aufklärung. Bei NATO und EU fehlt es nicht an Infanterie-Einheiten. Woran es mangelt, sind Truppen mit strategischen Fähigkeiten. Die Battlegroups sind in erster Linie ein politisches Projekt zur Intensivierung der Kooperation. Damit geht nicht automatisch die Bereitschaft einher, mehr Geld auszugeben.
Mit weniger Geld will auch die NATO mehr Sicherheit erzeugen. Läuft das Konzept "smart defence" auf mehr Lasten für die Europäer hinaus?
Dr. Overhaus: Der beim NATO-Gipfel in Chicago zur Schau gestellten Harmonie zum Trotz bleibt der transatlantische Raum nicht von Problemen bei der sicherheitspolitischen Kooperation verschont. Zahlreiche Konflikte zwischen den USA und der Europäischen Union bestehen fort. Einige haben sich sogar verschärft: Etwa der um die operative und finanzielle Lastenteilung in Afghanistan. Der neue französische Präsident Francois Hollande hat einen Konflikt mit den USA ausgelöst, weil er die eigenen Kampftruppen vorzeitig abziehen will. Auch bei der langfristigen Finanzierung der afghanischen Sicherheitskräfte hätte sich Washington von den Europäern einen größeren Beitrag gewünscht. Generell bleibt die Lastenverteilung im transatlantischen Bündnis umstritten. Die USA tragen heute 75 Prozent der Verteidigungsausgaben der NATO. Der scheidende US-Verteidigungsminister Robert Gates hatte Recht mit seiner Kritik, die NATO drohe aufgrund des geringen finanziellen Engagements der Europäer zu einem geteilten Bündnis zu verkommen.
Auch künftig will die NATO parallel zwei größere und sechs kleinere Operationen schultern können. Ist dies Illusion angesichts einer USA, die künftig mehr im Pazifik als im Atlantik agiert?
Dr. Overhaus: Diese Frage kann nicht anhand der konkreten Zahl gemeinsamer Operationen beantwortet werden. Die Frage lautet vielmehr generell, ob die USA und Europa in Zukunft noch in der Lage sein werden, gemeinsam sicherheitspolitisch zu handeln. Und dies auch jenseits klassischer Bündnispolitik, etwa im zivil-militärischen Krisenmanagement. Und bei dieser Frage sehe ich mit großer Sorge, dass die transatlantischen Konflikte virulent bleiben beziehungsweise sich sogar zuspitzen.
Geht dem Pakt der Vorrat an gemeinsamen Werten und strategischen Zielen aus? Jeder Wahlkampf kann - wie jetzt in Frankreich - dazu führen, dass gemeinsame Beschlüsse gekippt werden...
Dr. Overhaus: Wir haben das Grundproblem, dass Verteidigungs- und Sicherheitspolitik in den vergangenen Jahren grundsätzlich an Bedeutung eingebüßt haben. Dieser Trend wurde durch die Schuldenkrise verstärkt. Die meisten westlichen Regierungen fokussieren ihre Aufmerksamkeit auf wirtschafts- und sozialpolitische Themen, so dass Sicherheitspolitik hinten runter zu fallen droht.
Ist dies nicht eine bizarre Haltung angesichts massiver Aufrüstung in Asien? Hier entsteht doch eine neue Herausforderung für die NATO.
Dr. Overhaus: Die Tatsache, dass die aufstrebenden Länder, unter ihnen insbesondere China der Sicherheitspolitik eine höhere Priorität einräumen, ändert offensichtlich nichts an dem Kalkül Europas, dass Sicherheits- und Verteidigungspolitik an Bedeutung verlieren. Das kann man bedauern und anprangern, aber offensichtlich wird die Welt in beiden Hemisphären unterschiedlich wahrgenommen. Aus Sicht Europas definiert sich das Verhältnis zu den Aufsteigernationen nicht über militärische Fragen, sondern über wirtschaftliche und ordnungspolitische.
Muss Deutschland den Parlamentsvorbehalt opfern, wenn es in der NATO nicht an Einfluss verlieren will?
Dr. Overhaus: Nein. Ich denke, dass der Parlamentsvorbehalt bleiben wird, und das aus gutem Grund. Dennoch wird man darüber nachdenken müssen, wie es gelingen kann, dass sich Deutschland zunehmend in multinationale Strukturen integriert und dabei zuverlässig bleibt. Es darf nicht sein, dass Waffensysteme nicht bedienbar sind oder Einheiten geschwächt werden, weil Berlin vor dem Einsatz seine Soldaten zurückzieht. Meiner Meinung nach liegt das Hauptproblem hier jedoch nicht beim Deutschen Bundestag.
Hat Francois Hollande mit dem Quasi-Abzug der Franzosen ein Abzugswettrennen eingeläutet?
Dr. Overhaus: Der innenpolitische Druck auf alle Regierungen von NATO-Staaten wird steigen, das Afghanistan-Engagement so schnell wie möglich zu beenden. Die große Frage ist, ob letztendlich ausschließlich innenpolitische Faktoren den Zeitplan diktieren oder ob auch auf die sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen in Afghanistan geachtet wird.
Zehn Jahre Afghanistankrieg haben das Land nicht auf Dauer umgestaltet. Würde ein überstürzter Abzug das erreichte Mehr an Sicherheit gefährden?
Dr. Overhaus: Ja, ein überstürzter Abzug, der ausschließlich von innenpolitischen Befindlichkeiten der Entsendestaaten diktiert wird, würde das gefährden, was wir in Afghanistan bisher erreicht haben.
Am Hindukusch musste einst die Sowjetunion ihre Supermachtambitionen beerdigen. Gefährdet Afghanistan auch die Einheit in der NATO?
Dr. Overhaus: Die Einheit des Paktes war schon immer gefährdet, spätestens seit den Balkan-Kriegen, aber auch schon im Kalten Krieg. Bisher hat das nordatlantische Bündnis diese Spannungen aber immer ausgehalten und ich denke, das wird ihm auch in der Endphase der Afghanistan-Mission gelingen.
Washington setzte zuletzt oft auf Ad-hoc-Koalitionen der Willigen und Fähigen. Versinkt die NATO in der Bedeutungslosigkeit?
Dr. Overhaus: Nein. Die NATO wird trotz der Bildung neuer Ad-hoc-Koalitionen ihre Bedeutung behalten, weil sie die Aufrechterhaltung dieser Moment-Koalitionen enorm erleichtert. Zudem funktionierten Auslandseinsätze der NATO nach dem Ende des Kalten Krieges immer ad hoc. Es haben sich nie alle Mitgliedstaaten gleichermaßen an Auslandseinsätzen beteiligt. Das Bündnis funktioniert so und das wird auch in Zukunft so sein. Entscheidender ist, ob Amerika und Europa auch zukünftig werden gemeinsam handeln können, ob ad hoc oder nicht.
Quelle: Landeszeitung Lüneburg (Das Interview führte Joachim Zießler) / (ots)