Viele Nachbarstaaten stabilisieren Lohngefüge erfolgreich – deutliche Lücken in Deutschland
Archivmeldung vom 26.09.2013
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Freigeschaltet durch Manuel SchmidtIn vielen europäischen Ländern begrenzen eine hohe Tarifbindung oder das Zusammenspiel zwischen Tarif- und Mindestlöhnen die Lohnungleichheit. In Deutschland tun sich erhebliche Lücken auf: Der Wirkungsbereich des klassischen Tarifmodells ist deutlich geschrumpft, gesetzliche Stützen zur Stabilisierung des Lohngefüges gibt es kaum.
Zu diesem Ergebnis kommen Prof. Dr. Gerhard Bosch und Dr. Claudia Weinkopf vom Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) an der Universität Duisburg-Essen. Ihre aktuelle Analyse ist in der neuen Ausgabe der WSI-Mitteilungen erschienen, der Fachzeitschrift des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung.*
Bei der Verbreitung von Niedriglöhnen sind in Europa die Unterschiede groß: In Schweden verdienen knapp 3 Prozent der Beschäftigten weniger als zwei Drittel des mittleren Lohns, in Frankreich 6, in Spanien 15 und in Deutschland 22 Prozent (siehe auch die Grafik im Böckler Impuls; Link unten). Die IAQ-Forscher Bosch und Weinkopf haben untersucht, wie diese Differenzen zu erklären sind. Ihrer Analyse zufolge sind die nationalen Institutionen der Lohnfindung maßgeblich. Dabei beobachten sie eine Wechselwirkung zwischen gesetzlichen Lohnuntergrenzen und dem Tarifsystem.
In Großbritannien etwa seien die Betriebe zwar nur zu einem Drittel tarifgebunden. Immerhin gebe es aber einen nationalen Mindestlohn, also eine verbindliche Lohnuntergrenze für alle Arbeitgeber. In Frankreich sei der Organisationsgrad der Arbeitnehmer zwar gering. Neben einem relativ hohen Mindestlohn von 9,43 Euro wirke sich aber positiv auf das gesamte Lohngefüge aus, dass viele Tarifverträge per Allgemeinverbindlicherklärung für alle Unternehmen einer Branche gelten. Die Gewerkschaften in Belgien, den Niederlanden und Spanien könnten oberhalb der gesetzlichen Mindestlöhne Tariflöhne durchsetzen, die ebenfalls oft allgemeinverbindlich erklärt werden. Dänemark, Schweden und Österreich kämen aufgrund der fast lückenlosen Tarifbindung völlig ohne gesetzliche Lohnuntergrenze aus.
Die Situation in Deutschland halten die IAQ-Forscher in mehrfacher Hinsicht für problematisch: Die Tarifbindung ist in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten rapide gesunken. Wurden 1998 noch deutlich mehr als 70 Prozent aller Beschäftigten nach Tarif bezahlt, waren es 2012 nur noch 59 Prozent. Wo die Gewerkschaften schwach sind, würden teilweise Tariflöhne unter der Niedriglohnschwelle vereinbart, so Bosch und Weinkopf. In vielen kleinen Unternehmen gebe es zudem keinen Betriebsrat, der die Einhaltung tariflicher Mindeststandards kontrollieren könnte.
Ohne einen generellen Mindestlohn seien so neben dem klassischen deutschen Tarifmodell „große weiße Zonen eines unregulierten Arbeitsmarktes“ entstanden. Darüber hinaus verweigerten die Arbeitgeberverbände seit mehreren Jahren die Zustimmung zu Allgemeinverbindlicherklärungen. Die Folge: Der Niedriglohnsektor ist in Deutschland größer als in den meisten europäischen Staaten.
Mindestlöhne stoppen Sog nach unten, Tarifbindung reduziert Niedriglohnquote
In ihrer Untersuchung haben Bosch und Weinkopf auch die Auswirkungen von Mindestlöhnen auf die Lohnverteilung genauer untersucht. Dazu verglichen die Wissenschaftler des IAQ die Situation in 14 EU-Staaten. Die meisten Mindestlöhne liegen laut ihrer Analyse unterhalb der Niedriglohnschwelle und haben daher wenig Einfluss auf den Anteil der Geringverdiener. Nur der französische Mindestlohn sei so hoch, dass er einen eigenständigen Beitrag zur Begrenzung des Niedriglohnsektors leiste. In allen Staaten könnten gesetzliche Untergrenzen aber das Ausfransen der Verdienste nach unten verhindern, also die Lohnungleichheit innerhalb des Niedriglohnsektors verringern.
Zudem gebe es Auswirkungen auf die Lohnverteilung zwischen Männern und Frauen, schreiben die Wissenschaftler. Der Grund: Arbeitnehmerinnen seien überproportional von Niedriglöhnen betroffen und profitierten daher besonders stark von gesetzlichen Regelungen gegen Lohndumping. In Großbritannien habe sich der Gender Pay Gap bei Vollzeitbeschäftigten seit der Einführung des nationalen Mindestlohns im Jahr 1999 spürbar verringert.
Für die Verminderung von Lohnungleichheit insgesamt ist der Studie zufolge vor allem die Tarifpolitik entscheidend: Erst durch Tarifverträge entstehe überhaupt eine „lohnpolitische Mittelschicht“. Eine hohe Tarifbindung reduziere daher den Niedriglohnanteil. Da Frauen oft in Branchen mit niedriger Tarifbindung arbeiten, kämen die Vorteile tendenziell eher Männern zugute. Die skandinavischen Länder hätten aber durch eine solidarische Lohnpolitik erfolgreich Gleichstellungspolitik betrieben, schreiben Bosch und Weinkopf.
*Gerhard Bosch, Claudia Weinkopf: Wechselwirkungen zwischen Mindest- und Tariflöhnen, in: WSI-Mitteilungen 6/2013. Download: http://media.boeckler.de/Sites/A/Online-Archiv/12179
Quelle: Hans-Böckler-Stiftung (idw)