Bericht einer Deutschen im Donbass: Ein Krieg, der längst begonnen hat
Archivmeldung vom 15.02.2022
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Freigeschaltet durch Anja SchmittSeit einigen Monaten befindet sich die freie Journalistin Alina Lipp im Donbass. Von dort berichtet sie über die aktuelle Lage in dem Kriegsgebiet, wo sich westliche Journalisten seit Anfang des Konflikts nur selten blicken lassen. Dies berichtet das russische online Magazin „SNA News“ .
Weiter heißt es diesbezüglich auf deren deutschen Webseite: "Alina Lipp ist freie Journalistin und lebt seit einigen Monaten im Donbass, von wo aus sie zur aktuellen Lage über ihren Telegram-Kanal „Neues aus Russland“ berichtet. Während ihres Studiums in Deutschland nutzte sie jede Gelegenheit, Russland näher kennenzulernen, absolvierte Praktika und Freiwilligendienste und reiste mit der transsibirischen Eisenbahn nach Sibirien. Nachdem ihr Vater vor einigen Jahren aus Deutschland auf die Krim ausgewandert war, entschied sich Alina Anfang 2021 schließlich auch für ein Leben in Russland, wo sie seitdem als Journalistin umherreist, an Filmprojekten teilnimmt und sich politisch für deutsch-russische Freundschaft einsetzt.
Wumm. Irgendwo in nicht allzu weiter Entfernung knallt es. Ich schrecke zusammen, schaue mich um. Außer mir hält niemand in meiner Umgebung inne, die Passanten tun so, als hätten sie nichts gehört. Es ist Herbst 2021, ich stehe mitten im Zentrum von Donezk und es ist das erste Mal, dass ich etwas von den Kriegshandlungen an der Grenze zur Ukraine mitbekomme.
Normalerweise ist im Zentrum davon nichts zu hören. Am Abend erfahre ich in den Nachrichten, dass die ukrainische Armee eine Drohne mit Sprengsatz im Donezker Öllager hatte landen lassen und dieser bei der Entschärfung – in sicherer Entfernung von den Ölfässern – detoniert war. Wäre der Sprengsatz wie ursprünglich geplant auf einem Fass hochgegangen, wäre ein Großteil der Stadt ausgelöscht worden.
Bericht einer Deutschen im Donbass© Foto : Alina Lipp
Trotz aller Gefahren bin ich mittlerweile drei Monate in Donezk – der Donbass und die Geschichten seiner Bewohner lassen mich einfach nicht los. Es ist ein faszinierender Ort mit umso faszinierenderen Menschen und es brennt mir unter den Nägeln, deutschen Zuschauern und Lesern so gut es geht darüber zu berichten. Denn über das, was hier wirklich vor sich geht, herrscht in unseren Medien Schweigen im Walde. Die einzigen Berichte, die ich im deutschsprachigen Raum zum Thema Donbass finde, werden von außerhalb verfasst und stellen im Regelfall lediglich die Sichtweise der Ukraine dar. Mir ist kein Korrespondent eines westlichen, etablierten Medienhauses bekannt, der die Meinung der anderen Konfliktpartei einholt und hierfür mit den Menschen der Donezker oder der Lugansker Volksrepublik spricht – was eigentlich die gängige journalistische Praxis wäre.
In den letzten Monaten habe ich mich mit der lokalen Bevölkerung unterhalten, mit Politikern gesprochen, die Frontgebiete bereist, humanitäre Hilfe geleistet und in deutsch-russisch-donezker Kooperation einen Film gedreht. Warum ich diesen Job freiwillig übernommen habe, frage ich mich nicht selten selbst, da ich eigentlich einen Masterabschluss in Nachhaltigkeitswissenschaften besitze. Doch in Anbetracht dessen, dass meine Eltern (Mutter Deutsche, Vater Russe) sich bei einer deutsch-sowjetischen Friedensregatta kennenlernten, die international auf den kritischen ökologischen Zustand der Ostsee aufmerksam machen sollte, bekommt mein Lebensweg so etwas wie einen tieferen Sinn.
Bericht einer Deutschen im Donbass© Foto : Alina Lipp
Die deutsch-russische Freundschaft zu fördern ist seit einigen Jahren zu meinem Lebensinhalt geworden. Da ich die größte Ursache für die angespannten bilateralen Beziehungen in der einseitigen westlichen Medienberichterstattung sehe, die dem Leser gar keine andere Wahl lässt, als eine Abneigung gegen Russland zu entwickeln, beleuchte ich in meinen Kanälen und auf meiner Internetseite hauptsächlich die zentralen Konfliktthemen Krim und Donbass.
Die Krim besuchte ich 2016 das erste Mal und gründete den YouTube-Kanal „Glücklich auf der Krim“.
Nun spitzt sich seit einigen Monaten die Lage im Donbass zu und ich verstand, dass zuerst dieser seit nunmehr acht Jahren andauernde Konflikt gelöst werden muss, um anschließend mit dem Wiederaufbau guter Beziehungen zwischen Russland und dem Westen beginnen zu können. Aber warum konnte der Konflikt überhaupt seit acht Jahren nicht gelöst werden? 2021 beschloss ich nach Donezk zu fahren, um eine Antwort auf diese Frage zu finden und mehr darüber zu erfahren.
Situation im Donbass
Bericht einer Deutschen im Donbass© Foto : Alina Lipp
Nach Gesprächen mit Bürgern und Politikern vor Ort sowie mit Vertretern der russischen Regierung kann ich Folgendes mit Sicherheit dazu sagen: Die Bevölkerung des Donbass wird seit acht Jahren von ultra-nationalistisch gesinnten Landsleuten terrorisiert, die in den allermeisten Fällen als erstes das Feuer eröffnen und nicht davor zurückschrecken, auf Schulen und Kinder zu schießen. Aus diesem Grund gibt es für die Menschen keinen Weg zurück in die Ukraine und die meisten hoffen auf eine Aufnahme der Republiken durch Russland – so, wie es damals auch mit der Krim geschehen war. Doch wie mir erzählt wurde, wird Russland die Donbassrepubliken unter keinen Umständen aufnehmen, sonst wäre dies bereits getan worden.
Die Krim besaß zum Zeitpunkt der Aufnahme bereits den Status einer autonomen Republik – die Donezker und die Lugansker Volksrepublik nicht. Eine Aufnahme in die Russische Föderation wäre demnach rechtswidrig. Politexperten sehen aus der Situation daher nur zwei Wege: die internationale Anerkennung der Donbassrepubliken als eigenständige Staaten; oder ihre Aufnahme in die Russische Föderation mitsamt der restlichen Ukraine – ein Szenario, dass von westlichen Medien heute in allem Ernst als ein ultima ratio des Kremls erachtet wird. Wobei das ja bedeuten würde, dass Russland sich abertausende gewaltbereite Nationalisten mit ins Land holen würde und dabei noch einen unvermeidlichen Krieg mit der ganzen Welt riskieren müsste.
Bericht einer Deutschen im Donbass© Foto : Alina Lipp
Russlandpatriotismus ist in der Donezker Volksrepublik auf jeden Fall allgegenwärtig. Überall wird russisch gesprochen, in Rubel gezahlt und sich im Gegensatz zur Ukraine an der Moskauer Zeit orientiert. Riesige Plakate mit Aufschriften wie „Russischer Donbass“, „Unsere Wahl: Russland“ schmücken Wände großer Gebäude genauso wie russische Flaggen. Im Gegensatz dazu hat sich aufgrund des jahrelangen Beschusses eine starke Abneigung gegenüber der Ukraine entwickelt und ich habe bisher keinen einzigen Menschen getroffen, der anti-russisch gesinnt war. Die Bevölkerung ist dankbar für die humanitäre und wirtschaftliche Unterstützung durch Russland. Den durchschnittlichen Bürgern muss es hier an nichts mangeln: Die Supermärkte sind gut gefüllt (hauptsächlich mit russischen Produkten), Cafés und Restaurants geöffnet, genauso wie Theater, Kinos oder Fitnessstudios. Die erhältlichen Lebensmittel befriedigen übrigens nicht nur die Grundbedürfnisse, sondern bieten den Käufern z. B. auch verschiedene Sorten italienischen Kaffees, deutsche Ritter Sport Schokolade und ausgefallenere Dinge wie Reis- oder Buchweizenmilch. Neueste technische Geräte oder saisonale Markenklamotten stehen in den Einkaufshäusern ebenfalls zur Verfügung. Optisch sind die meisten Menschen durchschnittlich normal gekleidet und gepflegt. Als Frau ist mir zum Beispiel aufgefallen, dass sich der Großteil der Damenwelt die Fingernägel im Nagelstudio machen lässt.
Leben in der Gefechtszone des Donbass
Bericht einer Deutschen im Donbass© Foto : Alina Lipp
Doch was teilweise sogar Einheimische verdrängen: Nur zehn Autominuten vom Zentrum entfernt befindet sich die graue Zone zwischen Donbass und der Ukraine, in der ein beachtlicher Teil der Bevölkerung den Krieg tagtäglich am eigenen Leib erlebt. Hier leben normale, friedliche Menschen, Familien mit Kindern, die das Pech hatten, dass die ukrainischen Streitkräfte im Zuge des Krieges ausgerechnet bis zu ihren Häusern vorrücken konnten und ihre Nachbarschaft damit in ein Gefechtsgebiet verwandelten. Ein stärkerer Kontrast ist kaum vorstellbar – auf der einen Seite die Boutiquen und heilen Gebäude des Zentrums von Donezk, auf der anderen die Grenzwohngebiete, in dem kein Haus unbeschädigt geblieben ist. Hier führen die Menschen ein Leben in Armut und ständiger Angst.
Ich beschloss, mir diese Stadtgebiete näher anzusehen. Andrej Lisenko leistet dort seit Beginn des Krieges täglich humanitäre Hilfe und nimmt mich mittlerweile regelmäßig mit auf seine Fahrten. Was ich hier sah, werde ich niemals wieder vergessen.
Bericht einer Deutschen im Donbass© Foto : Alina Lipp
Bei meiner ersten Fahrt in die graue Zone fuhren wir in verschiedene süd-westlich gelegene Stadtviertel Donezks. Um in die Zone zu gelangen, mussten wir zwei schwer bewaffnete Kontrollposten, die sogenannten „Blockposts“ passieren, die an jeder gen Westen (also Richtung Ukraine) führenden Straße eingerichtet wurden. Die Soldaten kontrollierten uns nicht – sie erkennen Andrejs Auto bereits von weitem und winkten uns einfach hindurch. Nach den zwei, einige hundert Meter voneinander entfernten Kontrollposten, folgte eine dritte Barriere, die jedoch komplett gesperrt ist: die Grenze zur Ukraine. Kurz vorher bogen wir scharf ab und fuhren durch ein Wohngebiet. Die meisten Häuser waren in irgendeiner Weise beschädigt: Einschusslöcher, zerbrochene Fenster, Brandschäden. Einige Häuser waren komplett zerstört, andere verlassen.
Wir besuchten einen älteren, tauben Herrn ohne Beine, der in seinem eigenen Garten von einem ukrainischen Sniper angeschossen wurde, eine Mutter mit unterernährter sechsjähriger Tochter, die seit 2014 in einer Hausruine mit komplett zerstörtem Dach lebten und eine Familie mit zwei Töchtern, die im vergangenen Jahr 12 Monate im Schutzkeller gelebt hatte. Andrej verteilt aus Spenden finanzierte Essenspakete, Kleidungsspenden und Bargeld. Ansonsten hilft ihnen niemand, staatliche Hilfsprogramme existieren nicht.
Bericht einer Deutschen im Donbass© Foto : Alina Lipp
Auf dem Papier wird das Minsker Abkommen eingehalten, doch in Wirklichkeit schwelt der Konflikt weiter und droht jederzeit zu eskalieren.
Mit dem Verstand ist nicht zu begreifen, was hier vor sich geht, warum die ukrainische Seite seit Jahren die Zivilbevölkerung terrorisiert. Ich schreibe dies bewusst einseitig, da die Donezker Volksmiliz dies andersherum nämlich nicht tut. Die „bösen Separatisten“, wie sie in unseren Medien oft genannt werden, verteidigen sich lediglich gegen die täglichen Provokationen der ukrainischen Streitkräfte – das kann ich nach drei Monaten Aufenthalt, zahlreichen Gesprächen und eigenen Beobachtungen bestätigen. Für die Donezker Seite ist es unbegreiflich, wie die Ukrainer nicht einmal davor zurückschrecken, auf Schulen zu schießen. So wurden im November 2021 innerhalb von zehn Tagen gleich drei Schulen im Donbass beschossen.
Bericht einer Deutschen im Donbass© Foto : Alina Lipp
Ich bin bis ins Mark erschüttert von der Ungerechtigkeit, dem Elend, den Verbrechen an der Menschheit, die mitten in Europa stattfinden. Wie auch immer dieser Konflikt enden wird – Hauptsache er findet endlich ein Ende.
Aber wird das Ganze ein friedliches Ende finden können, wenn die näher gerückte und mit westlichen Waffen aufgerüstete ukrainische Armee eine Provokation wagt?"
Quelle: SNA News (Deutschland)