Die wichtigsten europäischen Verhandlungen seit Jahrzehnten – Russland ergreift Initiative
Archivmeldung vom 13.01.2022
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Freigeschaltet durch Sanjo BabićDie Positionen sind unversöhnlich, das gegenseitige Missfallen ist groß. Das Gespräch findet statt, obwohl Russland aus westlicher Sicht "frech" mit seinen Forderungen nach einer Rückabwicklung der NATO-Osterweiterung vorstößt. Es könnte zum größten diplomatischen Ereignis des Jahrzehnts werden. Dies berichtet Wladislaw Sankin im Magazin "RT DE".
Weiter berichtet Sankin auf RT DE: "Ende 2021 ist es Russland gelungen, die Initiative in der Debatte über die Zukunft des europäischen Sicherheitssystems zu ergreifen. Die begonnenen Gespräche über die Gestaltung einer integrativen und stabilen Ordnung könnten eines der größten diplomatischen Ereignisse des Jahrzehnts sein."
So bewerten Analytiker der russischen Diplomatenschule MGIMO Russlands diplomatischen Vorstoß zu Fragen der NATO-Osterweiterung und europäischen Sicherheit (Auszug aus der Präsentation der jährlichen MGIMO-Prognose "Internationale Bedrohungen 2022" bei TASS). Auch die traditionell russlandkritische FAZ musste anerkennen, dass es Russland mit minimalem Einsatz geschafft hat, "Gespräche von dieser Tragweite in Gang zu setzen".
Das ist nicht verwunderlich. Denn um es mit Fjodor Lukjanow, dem Chef-Redakteur der Zeitschrift Russia in Global Affairs, zu sagen, handelt es sich um den Versuch, die grundlegendsten Fragen der europäischen Sicherheit seit den Verhandlungen zu Deutschlands Wiedervereinigung zu lösen. Moskau stelle die Grundsätze und vor allem die zentrale Rolle euro-atlantischer Institutionen wie der NATO in Frage.
Deshalb näherten sich die Seiten mit ihren Positionen bislang kaum an, denn vor allem das, was für den Westen dreißig Jahre als unumstößliches Axiom galt, wird von Russland mit einem Federstrich praktisch über den Haufen geworfen. Die Positionen seien laut Lukjankows Analyse zumindest auf zwei Ebenen inkonsequent.
Erstens wird in den Vereinigten Staaten und damit auch insgesamt im Westen behauptet, die Verhandlungen gelten der Ukraine. Folglich ginge es bei den Treffen darum, eine angeblich kurz bevorstehende russische Invasion in diesem Land zu verhindern. So stellen die westlichen Medien die Situation fast ausnahmslos dar. Das belegen auch die Fragen der ausländischen Korrespondenten an Russlands Vizeaußenminister Sergei Rjabkow während der Presse-Konferenz nach Gesprächen der russischen und US-Delegationen in Genf am 10. Januar.
Für Russland geht es bei
diesem Prozess aber nicht um die ukrainische Frage als solche, sondern
um die Grundsätze der europäischen Sicherheit, um die Revision dessen,
was seit dem Kalten Krieg zum Faktum wurde, nämlich das Vorrücken der
militärischen Infrastruktur des Westens an Russlands Grenze. Das führte
im Endeffekt zu jener Konfrontation, die auch den Ukraine-Konflikt zur
Folge hatte.
Zweitens sind die Amerikaner bereit, über Probleme technischer Art zu sprechen, so wie man es von der konventionellen Rüstungskontrolle seit dem Kalten Krieg kennt — wo welche Beschränkungen für den Einsatz bestimmter Arten von Einheiten und Ausrüstung vereinbart werden können. Auch das zeigt die Berichterstattung, die die begonnenen Gespräche gerne als Abrüstungsverhandlungen darstellt.
Russland sieht darin das Mittel der Gegenseite, die Erörterung der Grundsatzfragen kaputtzureden. Die russische Forderung sind politische Verhandlungen über die Strategie, über die Grundlage der Beziehungen. Kleinere Korrekturen würden in dieser Reihenfolge das Hauptproblem nicht lösen, sondern es nur noch verschlimmern. "Die laute und kompromisslose Haltung Moskaus ist wahrscheinlich ein Mittel, um genau diese Technokratisierung der Verhandlungen zu verhindern und sie in der politischen Arena zu halten." Die Forderungen Russlands seien kein Menü im Restaurant, wo man sich ein Lieblingsgericht aussuchen kann, warnte Rjabkow noch im Dezember. Die möglichen Manöver der Gegenseite hat er schon damals durchschaut.
"Die Kluft in der Wahrnehmung ist so groß, dass eine neue und ausreichend gefährliche Eskalation erforderlich sein könnte, um die Parteien zu zwingen, wirklich nach originellen Formen von Vereinbarungen zu suchen", schlussfolgert Lukjanow.
Der Chef-Redakteur des Portals
Rubaltics und Kenner der baltischen Region Alexander Nossowitsch sagte im Gespräch mit RT DE, dass
das Baltikum in kürzester Zeit ein Spannungsfeld zwischen Russland und
der NATO sein könnte. Für Russland sei die militärische Entwicklung in
dieser Region zu einem antirussischen Platzdarm genauso inakzeptabel wie
in der Ukraine. "Sowohl das Baltikum als auch die Ukraine grenzen an
die zentralen Regionen Russlands. In jedem Fall beträgt die Flugzeit
nach Moskau und Sankt Petersburg nur wenige Minuten."
Die Hoffnung auf eine Deeskalation durch Verhandlungen rückt ihm zufolge wegen der extrem antirussischen Haltung der Staaten wie Polen, Litauen, Lettland oder Estland in immer weitere Ferne. Er weist darauf hin, dass in den letzten Jahren die Infrastruktur für Militärlogistik in der baltischen Region deutlich ausgebaut wurde, was die Stationierung von viel größeren Militärkontingenten möglich macht. Damit könnte das Baltikum bald zum Schauplatz eines Zusammenstoßes zwischen den beiden nuklearen Großmächten werden – vorausgesetzt, dass die USA eine schlagkräftige Offensivtruppe an den nordwestlichen Grenzen Russlands verlegen, um ihre Verhandlungsposition zu verbessern.
"Das angehäufte Geflecht von Widersprüchen kann nur auf zwei Arten gelöst werden: durch Verhandlungen oder durch eine ausgewachsene militärische Krise. Der Eskalationskurs, den die Osteuropäer derzeit verfolgen, wird schließlich zu einer Neuauflage der Karibikkrise führen, die genau auf ihrem Territorium ausbrechen wird", schlussfolgert Nossowitsch in einer im Dezember veröffentlichten Analyse.
Halten
wir fest: Russland fordert kompromisslos, dass die NATO nicht erweitert
wird, die USA und ihre Verbündeten lehnen diese Option
unmissverständlich ab. Das wird mit einer sehr großen Wahrscheinlichkeit
auch für das heutige NATO-Russland-Treffen in Brüssel gelten. Russland
drängt jedoch auf eine schnelle Lösung. Wenn man nur auf das hört, was
in der Öffentlichkeit gesagt wird und das auch ernst nimmt, macht es
keinen Sinn, noch mehr Zeit mit fruchtlosen Verhandlungen zu verlieren.
Dennoch führen die Parteien diese Verhandlungen durch und loben sie als "professionell". Das könnte ein Zeichen dafür sein, dass das, was man auf der Oberfläche als diplomatischen Marathon sieht, nur die Spitze des Eisbergs ist und vieles bereits durch geschlossene Kanäle vereinbart ist. Schließlich gab es außer drei Gesprächen zwischen Biden und Putin in den letzten Monaten auch genug Kontakte zwischen dem russischen und dem US-Militär.
In dieser Konstellation müssten die USA ihre Positionen gegenüber Russland unumkehrbar aufweichen. So wie man die russische Außenpolitik kennt, ist sie alles anderes als abenteuerlich, sie wird erst dann aktiv, wenn sie sich bei den angestrebten Positionen des Erfolges sicher ist. Ohne Garantien der Gegenseite würde sich Russland sehr unwahrscheinlich auf so eine kompromisslos formulierte Initiative einlassen.
Immer öfter ist in der US-Presse die Meinung zu hören, dass die USA die Sicherheitsinteressen Russlands berücksichtigen müssen – vor allem um Russland weniger Anlass zu geben, das sich abzeichnende Militärbündnis mit China gegen den Westen einzugehen. Es gibt sogar Stimmen, der Ukraine und sogar dem Baltikum einen neutralen Status zu geben und die US-Präsenz in Osteuropa gemäß der russischen Forderungen zu minimieren.
Die USA brauchen einen Friedensvertrag
mit Russland – das strebte Donald Trump an, und Joe Biden setzt diese
Politik nun mit seinem Team fort. Verschiedene Clans in der US-Führung
verhindern diesen Prozess. Mit einem Außenminister wie Antony Blinken
ist er jedenfalls nicht zu bewerkstelligen. Deswegen führte nicht er,
sondern Vizeaußenministerin Wendy Sherman die Verhandlungen mit der
russischen Seite in Genf durch. Schätzungen einiger Experten zufolge,
könnte sie sogar bald die Nachfolgerin von Blinken werden. Das heutige
Treffen der russischen Delegation mit der NATO in Brüssel könnte trotz
der "Kein Millimeter zurück"-Theatralik der östlichen NATO-Staaten eine
weitere Veranstaltung sein, die die öffentliche Meinung auf künftige
tecktonische Verschiebungen in der europäischen Sicherheitsarchitektur
vorbereitet."
Quelle: RT DE