Karnitschnig: Europa bleibt Anhängsel der USA
Archivmeldung vom 29.02.2020
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittDass Staaten keine Freunde, sondern nur Interessen hätten, sagte schon der französische Staatsmann Charles de Gaulle. Doch wie hart diese Haltung in der aktuellen Weltpolitik aufschlägt, zeigt spätestens die Ära Trump. Der US-Präsident habe die lange Zeit funktionierenden "multilateralen" Institutionen in nahezu allen außen- und wirtschaftspolitischen Feldern kaltgestellt. Mit dem Prinzip "America first" sei er auch der erste US-Präsident seit Langem, der seine Wahlversprechen eingelöst habe.
Der Leiter des US-Politikmagazins Politico in Berlin, Matthew Karnitschnig, stellte bei einem Diskussionsabend im Wiener Club Carinthia klar, dass Trump nur eine Sprache kennt - nämlich Druck und Sanktionsdrohungen - zum Vorteil für sein eigenes Land. Und dass diese vielfach kritisierte Vorgangsweise funktioniert, zeige sich jeden Tag wieder. Trump habe - bilateral - die Handelsbeziehungen neu aufgemischt und damit vor allem den Amerikanern gezeigt, dass sie sich nicht mehr über den Tisch ziehen lassen.
Multinationale Institutionen wie UNO, WTO & Co. seien Trump von vornherein suspekt, vor allem, wenn China und Russland mitreden. Aber auch die Europäer haben mit ihm nichts mehr zu lachen. Seine Drohung, den militärischen Schutzschirm über Europa abzuziehen, wenn die EU und vor allem Deutschland ihre Verteidigungsausgaben nicht deutlich erhöhen, sei ernst gemeint. So ernst, dass auch Karnitschnig tiefe Sorgenfalten schlägt. Hier fehle es an Dankbarkeit für 75 Jahre Sicherheit in Europa.
US-Partnerschaft für Europa alternativlos
Die USA seien ein Grundpfeiler für die Stabilität in Europa, der wichtigste Handelspartner und Verbündete seit Ende des Zweiten Weltkriegs, die EU geradezu eine amerikanische Erfindung. Wenn sich einer der Partner zurückzieht, was nicht einmal Trump wolle, werde dies hier zu schweren Verwerfungen führen. Die Hinwendung zu Russland oder China sei keine Alternative.
Anhand zahlreicher Beispiele - vom Pariser Klimaschutz-Abkommen über das Atomabkommen mit dem Iran bis hin zu den letzten Friedensinitiativen im Nahen Osten und zum Handelsstreit mit China - versuchte Karnitschnig aufzuzeigen, wie die US-Außenpolitik derzeit funktioniert. Mit Trump seien die internationalen Beziehungen - und damit auch Europa - in der Realität angekommen, betonte der Journalist mit Kärntner Wurzeln. Auch wenn einiges nicht funktioniert, wie im Fall von Nordkorea: Trump gebe den Ton an.
Europa hingegen habe überhaupt keine Konzepte für die aktuellen Krisenherde oder hält - wie im Falle Israels - an "Illusionen" wie der Zwei-Staaten-Lösung fest, für die es seit über 20 Jahren keine realistische Zukunft mehr gibt. Europa spiele in der Weltpolitik nach wie vor keine Rolle, die EU sei zerstritten und in vielen Belangen zu tolerant und nachgiebig. Das werde noch Jahrzehnte so bleiben, befürchtet Karnitschnig. Gut für die Amerikaner, so bleiben die Europäer ein Anhängsel, das nach ihrer Pfeife tanzt.
Warum Trump recht hat
Warum Trump recht hat, zeigt sich aus US-Sicht nicht nur in der Wirtschaftspolitik, sondern auch im militärischen Umfeld. Das Versprechen, die USA aus den "endless wars" herauszuholen, habe ihm viel Sympathien gebracht. Im weltpolitischen Ringen um Macht sieht Trump eigentlich nur Peking als Gegner - nicht Moskau. Russland sei wirtschaftlich maximal vergleichbar mit den Niederlanden oder Spanien. Die 5G-Debatte sei in diesem Zusammenhang nur ein Vorgeschmack auf künftige Konflikte.
Der wachsende Einfluss Chinas in Europa und für die liberale Welt sei brandgefährlich, versicherte Karnitschnig und verwies auf zahlreiche Infrastruktur-Übernahmen. Ob Daten nicht besser bei einigen Konzernen in den USA aufgehoben sind als in China, wo Millionen Menschen in Konzentrationslagern weggesperrt werden, sei keine rhetorische Frage mehr. Europa werde weiterhin der größte Handelspartner bleiben. Aber die Europäer müssten sich langsam die Frage stellen: Was und wo sind Europas Interessen?
Hintergrund: Der US-Journalist Matthew Karnitschnig hat für Reuters, Bloomberg News und das Wall Street Journal gearbeitet, zuletzt als Deutschland-Chef. Seit 2015 leitet er das Berliner Büro des US-Politikmagazins Politico http://politico.eu , ein Joint Venture von Politico USA mit dem Springer Verlag Brüssel. Das Magazin berichtet über die europäische Politik und ihren Machenschaften und Manövern, ein Abo kostet rund 7.000 Euro jährlich, was sich hauptsächlich Institutionen und Insider leisten.
Quelle: www.pressetext.com/Dr. Wilfried Seywald