Historiker Leonhard kritisiert Euro-Rettungspolitik: "Das alte Modell funktioniert nicht mehr"
Archivmeldung vom 07.08.2015
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 07.08.2015 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Thorsten SchmittDer Historiker Jörn Leonhard hält die bisherige europäische Integrationspolitik für nicht mehr zukunftsfähig. "In der aktuellen Krise zeigt sich: Das alte Modell, wie Europa zusammengewachsen ist - immer mehr Integration, keine Rückschritte -, funktioniert nicht mehr", sagte Leonhard der in Düsseldorf erscheinenden "Rheinischen Post". Ein neues Modell sei noch nicht in Sicht.
Auch daher rühre "die erkennbare Erschöpfung vieler Politiker". Leonhard, der an der Universität Freiburg westeuropäische Geschichte lehrt, hatte 2014 das Sachbuch "Die Büchse der Pandora" über den Ersten Weltkrieg veröffentlicht. Eine Lehre aus der Griechenland-Krise sei, sagte er, "dass die Unumkehrbarkeit als europäische Staatsräson in eine Krise geraten ist. Ein riesiger Fehler wäre es zu sagen: Nur Unumkehrbarkeit sichert Frieden. Der Fetisch der Unumkehrbarkeit schränkt unsere politischen Möglichkeiten ein, rational über andere Optionen zu sprechen." Leonhard kritisierte auch die Euro-Rettungspolitik der vergangenen Jahre: "Die Menschen merken es, wenn die Regeln über jede Grenze hinaus gebogen werden, nur um zu beweisen, dass es keinen Rückschritt gibt. Wenn die Glaubwürdigkeit der Preis für die Unumkehrbarkeit ist, wäre das ein sehr hoher Preis." Trotzdem sieht der Historiker in der Krise auch Chancen: "Über Europa ist lange nicht so intensiv gesprochen und nachgedacht worden: über die Leistungen - und über die Probleme. Das ist belastend, aber auch hilfreich, wenn daraus die Erkenntnis erwächst, dass wir nicht weitermachen können wie bisher." Vor allem das Europäische Parlament hat nach seiner Ansicht "ein enormes Potenzial": "Tsipras' Auftritt in Straßburg war ein Event. Europa ist mehr als die Limousinen der Staatschefs, und die Gehäuse der Nationalstaaten werden durchlässiger."
Hier folgt das komplette Interview als Abschrift:
Fangen wir ganz einfach an: Was ist eigentlich Europa?
Leonhard (lacht): "Das ist sozusagen die Eine-Million-Euro-Frage. Ich kann aber keinen Joker anbieten. Leonhard Also gut: Zunächst ein geografischer Raum, dann ein historischer Erfahrungsraum: Reformation, Aufklärung, Revolutionen, Rechtsstaat, und schließlich nach dem Zweiten Weltkrieg eine politische Struktur im Rahmen der europäischen Integration."
Sind es diese historischen Erfahrungen, die uns zusammenhalten?
Leonhard: "Einerseits: Ja, natürlich. Andererseits wäre ich sehr vorsichtig, was etwa ein gemeinsames europäisches Wertegerüst angeht. Schon der Unterschied zwischen der deutschen Tradition des Rechtsstaats, dessen Regeln zu beachten sind, und dem Fokus auf die soziale Republik in Frankreich ist sehr groß - und da sind wir noch mitten in Kerneuropa. Frankreich war sehr früh ein Nationalstaat, Polen musste darum lange kämpfen. Das alles lässt sich nicht ohne Weiteres in etwas Gemeinsames übersetzen. Vermutlich ist es die spannungsreiche Vielfalt, die Europa ausmacht, und eben die historisch gewachsene Erfahrung, wie man mit dieser Vielfalt umgeht. Auch in Krisen und Konflikten."
Krisen wie jetzt gerade?
Leonhard: "Ja. Je höher man in der Werteskala greift, wenn zum Beispiel die Kanzlerin sagt: "Scheitert der Euro, dann scheitert Europa", desto höher liegt die Latte und desto eher stehen grundsätzliche Dinge infrage, wenn die Latte gerissen wird. Für die Generation, die den Krieg noch erlebt hat, war die europäische Integration eine Antwort auf den Krieg, aber diese emotionalisierte Sicht ist nicht mehr automatisch eine Antwort auf die Herausforderungen der Gegenwart. Der Grexit ist keine Frage von Krieg und Frieden. So zu argumentieren, beschränkt die politische Handlungsfreiheit."
Teilen Sie die Unterscheidung zwischen dem Herzenseuropäer Schäuble und der Pragmatikerin Merkel?
Leonhard: "Für mich steht Schäuble, der Jurist, eher für eine tief verwurzelte deutsche Rechtstradition: Verträge sind einzuhalten, Regeln gelten für alle. Denken Sie nur an die starke Stellung des Bundesverfassungsgerichts. Das ist in Frankreich oder Italien aus historischen Gründen anders. Diese tief verwurzelten Unterschiede verschwinden durch immer mehr europäische Integration nicht einfach. Das haben wir unterschätzt. Trotz oder wegen dieser Unterschiede haben wir einen emotionalen und symbolischen Überbau geschaffen, der in der Gefahr ist, das Projekt zu überfrachten. Das ist wie bei Liebespaaren: Je mehr man sich täglich die Liebe gesteht, desto größer ist die Enttäuschung, wenn es mal nicht gut läuft. Es ist ja absurd, Schäuble als Antieuropäer hinzustellen."
Leben wir noch mehr im 20. Jahrhundert, als uns lieb ist?
Leonhard: "Wir erleben zumindest, dass Dinge zurückkehren, von denen wir dachten, wir hätten sie längst hinter uns, das Denken in nationalen Interessen zum Beispiel. Aber die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts - denken Sie an die Kriege der Gegenwart, den globalen Terrorismus - sind andere, und die überkommenen Antworten passen darauf nicht mehr ohne Weiteres."
Muss es stets auch Ziel deutscher Politik sein, sich Europa verträglich zu machen - auch wenn es eigenen Interessen widerspricht?
Leonhard: "Das ist die Gretchenfrage der deutschen Politik. Helmut Kohl war klar: Er bekommt die Vereinigung nur, wenn er zur Vertiefung der europäischen Integration bereit ist. Das Paradox ist, dass auch in solchen Fällen immer gefragt wird, ob das nicht eine deutsche Hegemonie durch die Hintertür sei: also nicht durch politische Dominanz, sondern durch wirtschaftliche Potenz."
Wie lässt sich das verhindern?
Leonhard: "Gar nicht. Es ist egal, wie Deutschland sich verhält - früher oder später wird es immer mit diesem Konflikt konfrontiert."
Das klingt, als wäre der deutsche Spielraum viel enger, als Deutschlands Kritiker es darstellen?
Leonhard: "Mit Blick auf die Zahlen ist der Spielraum groß - theoretisch hat Deutschland eine Sperrminorität, etwa beim Euro-Rettungsfonds ESM. Aber so funktioniert Politik nun mal nicht. Politische Faktoren spiegeln sich nicht in Zahlenwerken. Die Beschlüsse des Griechenland-Gipfels sind mit dem Versailler Vertrag 1919 verglichen worden...
Leonhard ... da stehen mir die Haare zu Berge. In Versailles ging es um Strafrecht, um Reparationen, nicht um Transferleistungen. Das ist ein perfider Vergleich."
Der EU-Vertrag sieht eine "immer engere Union" vor. Ist das europäische Projekt tatsächlich unumkehrbar?
Leonhard: "Griechenland zeigt, dass die Unumkehrbarkeit als europäische Staatsräson jedenfalls in eine Krise geraten ist. Ein riesiger Fehler wäre es zu sagen: Nur Unumkehrbarkeit sichert Frieden. Der Fetisch der Unumkehrbarkeit schränkt unsere politischen Möglichkeiten ein, rational über andere Optionen zu sprechen. Die Menschen merken es, wenn die Regeln über jede Grenze hinaus gebogen werden, nur um zu beweisen, dass es keinen Rückschritt gibt. Wenn die Glaubwürdigkeit der Preis für die Unumkehrbarkeit ist, wäre das ein sehr hoher Preis."
Muss Europapolitik auch gegen Mehrheiten im Volk gemacht werden?
Leonhard: "Die europäische Integration mit ihren Erfolgen hat nur auf der Basis von Regierungsbeschlüssen so gut funktioniert. Und hätten wir in Deutschland eine Volksabstimmung durchgeführt, hätten wir eine gute Chance für den Grexit gehabt. Bei aller berechtigten Kritik am Demokratiedefizit: Die großen Erfolge der EU - denken Sie an das friedliche Ende des Kalten Krieges und die Osterweiterung - waren auch ein Ergebnis der Regierungsbeschlüsse. Aber auch diese Politik erschöpft sich, weil die finanziellen Einsätze mit der Euro-Rettung so groß geworden sind. In der aktuellen Krise zeigt sich: Das alte Modell, wie Europa zusammengewachsen ist - immer mehr Integration, keine Rückschritte -, funktioniert nicht mehr, und ein neues Modell ist noch nicht ersichtlich. Auch daher die erkennbare Erschöpfung vieler Politiker.
Wie sieht ein neuer Werkzeugkasten für Europa aus?
Leonhard: "Es klingt abgedroschen, aber in der Krise liegt eine Chance. Über Europa ist lange nicht so intensiv gesprochen und nachgedacht worden: über die Leistungen - und über die Probleme. Das ist belastend, aber auch hilfreich, wenn daraus die Erkenntnis erwächst, dass wir nicht weitermachen können wie bisher.
Und ganz konkret?
Leonhard: "Das Europäische Parlament wird heute viel mehr wahrgenommen als früher. Tsipras' Auftritt in Straßburg war ein Event. Europa ist mehr als die Limousinen der Staatschefs, und die Gehäuse der Nationalstaaten werden durchlässiger. Trotz der noch bescheidenen Kompetenzen: Dieses Parlament hat ein enormes Potenzial."
Quelle: Rheinische Post (ots)