Die Rückkehr des Staates auf die Kommandohöhen der Wirtschaft
Archivmeldung vom 29.09.2008
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittDrei Jahrzehnte lang galt der Schlachtruf der Marktwirtschaftler, dass sich der Staat von den Kommandohöhen der Wirtschaft zurückziehen müsse. Deregulierung, Privatisierung sowie schlanker Staat und freier Markt waren die Parolen seit dem Ende der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts.
Ob New Labour unter Tony Blair, die New Democrats unter Bill Clinton oder die Neue Sozialdemokratie unter Gerhard Schröder, selbst die politischen Parteien der linken Mitte befreiten die internationalen Märkte für Güter, Dienstleistungen und Kapital von staatlichen Schranken. Sie waren die Vollstrecker der Marktrevolution, die Ronald Reagan und Margaret Thatcher ideologisch und praktisch begannen. Auch die globale Integration der Finanzmärkte ist das Ergebnis politischer Entscheidungen, die konservative und linke Regierungen gleichermaßen fällten. Dass freie Märkte immer auch instabil und krisenanfällig sind, nahmen sie als Preis für mehr Wohlstand und Effizienz stillschweigend hin, verschwiegen es aber meist der Öffentlichkeit. Dass Kapitalismus und Krise zusammengehören, dies offen zu erklären fanden und finden die Politiker der linken und rechten Mitte nie den Mut. Sie überließen stattdessen verschämt das Feld den Gegnern der Marktwirtschaft, die dankbar die Ängste der Bevölkerung ausbeuteten vor den scheinbar undurchschaubaren wirtschaftlichen Zusammenhängen.
Ausgerechnet eine konservative amerikanische Regierung kündigt nun den marktliberalen Konsens auf, da der Zusammenbruch des amerikanischen Finanzsystems droht. Sie tritt für eine aktive, eingreifende Rolle des Staates im Kapital- und Finanzmarkt, dem am stärksten globalisierten Wirtschaftsbereich ein. Diese Entscheidung markiert einen Wendepunkt in der Wirtschaftspolitik, der als große Wasserscheide in die Annalen eingehen wird. Wir sind seit einigen Wochen Zeuge einer Rückkehr des Staates auf die Kommandohöhen der Wirtschaft und eines beispiellosen Rückzugs des Marktes aus der internationalen Finanzwelt. Diese grundstürzende Entwicklung vollzog sich gleichwohl nicht über Nacht. Sie passt sich nahtlos ein in den schon seit einigen Jahren zu beobachtenden Trend, dass der Staat seinen Einfluss auf die Wirtschaft ausdehnt und mehr Verantwortung übernimmt. So unterliegen Investitionen von so genannten Staatsfonds und privaten ausländischen Investoren in politisch definierten strategischen Wirtschaftsbereichen zunehmend einer verstärkten politischen Kontrolle und werden, wenn nötig, von Regierungen verhindert. Außen- und Sicherheitspolitiker entdecken die Energie- und Rohstoffversorgung als strategische Themen, die Märkten und Unternehmen Grenzen auferlegen. Die Welthandelsorganisation mit ihren verschiedenen Foren zum Abbau von Handelsschranken befindet sich in einer tiefen Existenzkrise. Sie wird zum Spielball unvereinbarer Wirtschaftsinteressen westlicher Staaten und der aufstrebenden Schwellenländern wie China, Brasilien und Indien. Nationale Regierungen nehmen den Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft nicht mehr als gottgegebenes Schicksal an, sondern versuchen die heimische industrielle Basis durch eine aktive Industrie- und Handelspolitik zu schützen und zu fördern. Die Angst vor einer schrumpfenden und vom sozialen Abstieg bedrohten Mittelschicht trägt ein Übriges dazu bei, dass Politiker aller Couleur den Staat wieder als Schutzmacht der eigenen Volkswirtschaft und ihrer Arbeitsplätze entdecken. Schließlich droht ein neuer Konflikt zwischen autoritären und demokratischen Marktwirtschaften, in dem ein wachsender russischer und chinesischer Wirtschaftsnationalismus, auch den Westen zu protektionistischen Maßnahmen greifen lässt, um die heimischen Unternehmen, Wirtschaftsbereiche und Arbeitsplätze zu verteidigen. Die Welt ist wieder westfälischer geworden.
Stärkt der Rückzug des Marktes, den viele Kräfte betreiben, denn auch die Glaubwürdigkeit des Staates, der auf dem Vormarsch ist? Nicht zwingend. Die Marktrevolution der Thatchers und Reagans antwortete auf die Unfähigkeit von Regierungen, ganze Volkswirtschaften durch Geld- und Finanzpolitik zu steuern. Sie feierte einen fulminanten Sieg mit dem Fall des Eisernen Vorhangs, denn das Scheitern aller sozialistischen Experimente in Ost und West zeigte, wie sehr ein Übermaß an staatlicher Lenkung zu besonders gravierendem Systemversagen führt. Heute, fast dreißig Jahre nach dem Aufstieg des Wirtschaftsliberalismus, wissen wir aber auch, dass kaum oder unzulänglich regulierte Märkte versagen können.
Die kommenden Debatten müssen also die Einäugigkeiten der Markt- wie Staatsgläubigen überwinden. Es geht künftig um Auseinandersetzungen, in denen wir das richtige Verhältnis zwischen Staat und Markt auf allen Ebenen finden müssen - lokal, national und global. Die Grenzen zwischen Staat und Markt sind unscharf, von Land zu Land unterschiedlich und verschieben sich ständig. Nach den politischen Eingriffen am offenen Herzen des Finanz- und Bankensystems können die Vereinigten Staaten, der internationale Währungsfonds oder die Weltbank nicht mehr eine für alle Volkswirtschaften passende Lösung propagieren, wie die Politik das jeweilige nationale Wirtschaftssystem gestalten soll.
Die wirtschaftspolitische Bedeutung der amerikanischen Finanzmarktkrise besteht darin, dass sie uns gezeigt hat, dass wir ein neues Gleichgewicht zwischen staatlichen Eingriffen und der Eigendynamik des Marktes brauchen. Diese gesellschaftliche Schlüsselentscheidung ist von eminent politischer Natur und wird die Welt grundlegend neu gestalten und die Leitlinien für das 21. Jahrhundert vorgeben. Die amerikanische Finanzmarktkrise kann aber auch als ironischer Treppenwitz der Geschichte gedeutet werden. Die 700 Milliarden des US-Finanzministers verschaffen den amerikanischen Banken nicht nur ein neues Leben, sondern auch einen Standortvorteil, der allen globalen Bemühungen zum Abbau von Subventionen Hohn spricht. Nach der Verstaatlichung von Teilen des Banken- und Wohnungssektors scheint es sogar möglich, dass sich die Vereinigten Staaten in die Reihe der staatskapitalistischen Länder einreihen könnten. Auf unerwartete Weise würden sich die USA so den alten Rivalen China und Russland annähern.
Quelle: HAUS RISSEN HAMBURG