Kirgisien: Ethnischer Konflikt nur vorgeschoben
Archivmeldung vom 05.07.2010
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittDie Lage in Kirgisien verschärft sich nur unnötig, wenn Politiker und Medien die jüngsten Konflikte in der Ex-Sowjetrepublik vereinfacht als Auseinandersetzung von Volksgruppen darstellen. Das betont Sophie Roche, Ethnologin am Zentrum Moderner Orient. "Man wird der Situation viel eher gerecht, wenn man die Spannungen als Folge der wachsenden Bevölkerung, der Jugendarbeitslosigkeit oder des Ressourcenkampfes ansieht. Die Ethnisierung, die die Medien betreiben, schaukelt die Lage nur auf und verhindert Frieden", so die Forscherin im pressetext-Interview.
Das Gebirgsland Kirgisien zwischen Kasachstan und China kommt seit April dieses Jahres nicht zur Ruhe. Damals wurde Präsident Kurmanbek Bakijew gestürzt, dessen autoritärer Führungsstil immer mehr in Richtung Militärdiktatur tendierte und der mit seiner Finanz- und Sozialpolitik die Armut des Landes schürte. In der Vorbereitung für eine Volksabstimmung artete am 10. Juni eine Massenschlägerei von Jugendlichen zu Unruhen aus, die Agenturberichten zufolge 2.000 Menschen das Leben kosteten und bis zu 500.000 Menschen in die Flucht trieben.
Das Referendum konnte jedoch abgehalten werden und lieferte in der
Vorwoche eine 90-prozentige Zustimmung für eine neue demokratische
Verfassung. Damit könnte Kirgisien zur ersten parlamentarischen Republik
in Zentralasien werden. Die Unruhen dauern jedoch besonders im Süden
des Landes an. Ein Militärbündnis unter russischer Führung hat
Spezialkräfte als Berater in der Region stationiert und auch die OSZE
überlegt die Entsendung von 100 Polizisten. Mindestens bis 10. August
wird ein derzeitiger Ausnahmezustand noch andauern.
Vielvölkerstaat am Scheidepunkt
Die 5,5 Mio. Einwohner Kirgisiens gehören vielen ethnischen Gruppen an, wobei außer der kirgisischen Mehrheit vor allem Usbeken aber auch Russen, Dunganen, Uiguren und eine Vielzahl weiterer Völker vertreten sind. "Die ethnische Identität spielte in der Vorsowjetzeit nur eine geringe Rolle. Die Grenzziehung der Staaten in den 1920ern und 30ern fixierte dann ethnische Zugehörigkeit mit nationalen Strukturen", so Roche. Das Ferghana Tal wurde zwischen diesen Staaten wie ein Flickenteppich aufgeteilt, wobei viele ethnische Gruppen nicht in ihrer Titularnation, sondern als Minderheiten im benachbarten Land siedelten.
Das frühere Nebeneinander der Kulturen zeigte sich darin, dass jeder mindestens zwei Sprachen beherrschte. Ethnische Zugehörigkeit bedeutete oft eigene kulturelle Eigenheiten und die Besetzung einer bestimmten wirtschaftlichen Nische. So waren etwa Usbeken als erfolgreiche Händler bekannt. "Das ist ein Grund, warum der Bazar der Stadt Osh in den Juniunruhen weitgehend zerstört wurde. Wo Unterschiede kultiviert werden, können sie auch mobilisiert werden", erklärt die Expertin.
Der Fokus auf die Ethnien ist angesichts der komplexen Probleme viel
zu einfach gestrickt, betont die Zentralasien-Expertin. Entscheidend
sei eher das Problem der Verteilung der Bodenschätze des Landes, das
Mitmischen krimineller Organisationen und ungelöste Probleme der
Jugendgeneration. "Die bewohnbaren Gebiete des Gebirgslandes sind seit
Jahrhunderten dichter besiedelt als die umliegenden Gebiete. Der
demografische Druck wuchs durch die hohe Geburtenrate während der
Sowjetzeit, das Land wird knapp und die Arbeitslosigkeit steigt enorm.
Diese Dynamik dürfte wie schon 1990 auch die aktuellen Konflikte
bestimmt haben, auch wenn der Ausgangpunkt politisch motiviert war."
Hoffnung auf Frieden lebt
Die Stimmungslage in einem Großteil der Bevölkerung sei derzeit jedoch positiv, habe sich die Zukunftshoffnung doch mit dem Referendum bestätigt. Am vorgestrigen Samstag wurde schließlich Rosa Otunbajewa, bisherige Leiterin der Übergangsregierung, als provisorisches Staatsoberhaupt vereidigt. "Inmitten vieler 'failed states' der Region sehen viele Kirgisen ihr Land als Hoffnungsträger, in dem ein parlamentarisches System Frieden bringen kann", so Roche. Deutliche Zeichen gegen eine Ethnisierung des Konflikts seien weiterhin die vielen Mischehen zwischen Angehörigen verschiedener Bevölkerungsteile, zudem gebe es "viele positive Kräfte" im Land.
Als wünschenswert bezeichnet die Expertin, wenn das eigene Militär die Menschen beschützen und den Überschlag des Konflikts in andere Landesregionen verhindern könnte. "Ein Auskommen ohne Hilfe von Außen wird jedoch immer unwahrscheinlicher."
Quelle: pressetext.deutschland Johannes Pernsteiner