Parlamentspräsident Bartolone warnt vor Vertrauenskrise in Europa
Archivmeldung vom 27.12.2013
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 27.12.2013 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Thorsten SchmittDer französische Parlamentspräsident Claude Bartolone warnt vor einer „echten Vertrauenskrise“ in der Europäischen Union. Eine wachsende Zahl von Europäern stehe dem europäischen Einigungswerk misstrauisch gegenüber, sagte er in einem Interview mit der Zeitung „Das Parlament“ (Erscheinungsdatum: 30. Dezember 2013). Bei den Europawahlen im Mai 2014 könnte dies durch Massenenthaltungen oder eine Zunahme der Stimmen von populistischen Parteien deutlich werden. „Wenn die Populisten im kommenden Juni mit einem Drittel der Mandate ins Parlament einzögen, wären die Institutionen dauerhaft blockiert“, sagte der Sozialist.
Gleichzeitig forderte Bartolone eine „echte europäische Verteidigungspolitik“. Wenn Frankreich sich in einem Land wie etwa in Mali militärisch engagiere, leiste es einen Beitrag zur gemeinsamen europäischen Sicherheit und trage auch „die Verantwortung für die nukleare Abschreckung, die zum Gleichgewicht des Friedens über unseren Kontinent hinaus beiträgt.“ Frankreich habe jedoch „weder die Berufung noch die Mittel, Weltpolizist zu werden“, sagte er. Bartolone sprach sich daher für eine „gemeinsame Übernahme der Verantwortung für unsere Sicherheit durch eine echte europäische Verteidigungspolitik“ aus.
Das Interview im Wortlaut:
Präsident Bartolone, was bedeutet der Erste Weltkrieg für Sie und wie wurde Ihnen davon erzählt?
Meine italienisch-maltesischen Eltern waren von den Schützengräben des Nordens nicht betroffen. Ich habe aber wie alle Franzosen in der Schule – der Wertvermittlerin der Republik – von den Berichten und dem Leid erfahren.
Der Historiker Fritz Stern hat gesagt, dass der Erste Weltkrieg die erste Katastrophe des 20. Jahrhunderts gewesen sei, aus der sich alle folgenden ergeben hätten. Erinnern sich Deutsche und Franzosen anders und wenn ja warum?
Fritz Stern denkt zu recht an die dramatischen Folgen des Friedensvertrags von 1918, der, da er Deutschland wirtschaftlich demütigte und Gebietsabtretungen auferlegte, ein nationalistisches Bedürfnis nach Revanche weckte, das die Nazis dann ausnutzen. Andere Historiker haben die Ursachen der Katastrophen des 20. Jahrhunderts allerdings noch weiter in der Vergangenheit verortet. Ich denke beispielsweise an die Arbeiten des Italieners Domenico Losurdo über die Geschichte der Sklaverei, oder die Ihrer berühmten Frankfurter Schule zur Geschichte des Liberalismus. Ich denke, die Katastrophe des Ersten Weltkriegs bedeutete ein Scheitern der westlichen Moderne, die lange Zeit nicht erfasst hatte, dass das Konzert der Nationen ein allgemeingültiges nationales und internationales Regelwerk benötigte. Deutsche und Franzosen erinnern sich auf sehr unterschiedliche Weise an den Ersten Weltkrieg. Meine deutschen Freunde wundern sich häufig über den Stellenwert der verschiedenen Gedenkfeiern in Frankreich, vor allem des jetzt bevorstehenden 100. Jahrestages. In Deutschland nimmt die Pflicht des Gedenkens an den Zweiten Weltkrieg großen Raum ein, das ist verständlich. Anders als Deutschland wurde Frankreich 1914 überfallen. Der Krieg forderte nicht nur Opfer unter den Streitkräften: Frauen, Kinder und alte Menschen sind durch die Bombardierungen zu Tode gekommen.
Wie bewerten Sie die These des Historikers Christoper Clark, wonach es keinen eindeutigen Schuldigen des Ersten Weltkriegs gab, sondern dass die Juli-Krise 1914 von den Staatsmännern falsch eingeschätzt wurde und ihnen entglitt?
Christopher Clark hat historisch betrachtet sicherlich recht. Die europäischen Staatschefs erfassten die Folgen der Mobilmachungen und Erklärungen im Sommer 1914 offensichtlich nicht: Für sie sollte der Krieg kurz und entscheidend sein. Als Politiker neige ich allerdings dazu, Spitzenpolitiker nicht nur in der Politik, sondern auch in Bezug auf die Geschichte in die Pflicht zu nehmen. Die Politik von heute ist die Geschichte von morgen. Schlechte Politik kann rasch zu einer Katastrophe führen.
Präsident François Hollande wurde bei den diesjährigen Feiern zum Waffenstillstand am 11. November ausgebuht. Was bedeutet das für Sie?
Derartige Vorkommnisse sind inakzeptabel. In einer Demokratie kann man, wenn man mit den herrschenden Machtverhältnissen unzufrieden ist, wählen gehen, man kann demonstrieren oder sich politisch engagieren und seine Ideen vertreten. Wer aber den Staatspräsidenten bei den Gedenkfeiern zum 11. November auspfeift, der pfeift Frankreich, seine Toten, seine Identität und sein Erinnern aus. Aber die extreme Rechte hat der Republik nie besonderen Respekt entgegengebracht.
Was ist für Sie in der Erinnerungskultur besonders wichtig?
Das Erinnern ist natürlich eine Frage der Werte und der Erinnerungsorte: In Frankreich hat jedes Dorf ein Denkmal für die Gefallenen, das jedes Jahr mit Blumen geschmückt wird. Aber das reicht nicht aus: Erinnern ist auch eine Frage der geschichtlichen Bildung. Wir haben das Glück, zu den Ländern mit reichen und angesehenen historiographischen Traditionen zu gehören. Uns muss gelingen, diesen Reichtum zu vermitteln und zu lehren. Denn aus Unwissenheit kann Feindseligkeit gegenüber Aufklärung erwachsen und daraus entstehen Gewalt, Intoleranz und Kopflosigkeit.
Angesichts der bevorstehenden Wahlen zum Europaparlament 2014 wird ein Erstarken nationalistischer, europafeindlicher Parteien erwartet. Wie sollte die Politik darauf reagieren?
Wir müssen die europäische Debatte politisieren. Ich habe gerade ein kleines Werk zu dieser Frage veröffentlicht, das den Titel „l’urgence européenne“ (Europa: es eilt) trägt. Darin beschreibe ich auf den ersten Seiten das Szenario, das wir erleben könnten, wenn wir nicht ernst nehmen, dass eine wachsende Zahl von Europäern dem europäischen Einigungswerk misstrauisch gegenüber steht: Massenenthaltungen bei den Europawahlen im Mai 2014 kombiniert mit einer Zunahme der Stimmen für die Populisten. Wenn die Populisten im kommenden Juni mit einem Drittel der Mandate ins Parlament einzögen, wären die Institutionen dauerhaft blockiert und wir stünden gegenüber dem europäischen Projekt vor einer echten Vertrauenskrise.
Die unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklung führt in Deutschland und Frankreich zu Misstönen. Wie kann man sicher gehen, dass aus der Konfrontation, die Sie kürzlich in einem Interview als etwas durchaus positives erwähnt haben, kein echter Konflikt wird?
Vor den besten Kompromissen steht immer der Wettstreit der Ideen. Wir sollten keine Angst haben, unsere Meinungsverschiedenheiten offenzulegen: Europas Problem ist mehr, als kalt und unpolitisch wahrgenommen zu werden, und weniger, dass es eine Vielzahl politischer Angebote macht. Was zwischen Frankreich und Deutschland verhandelbar ist, ist es in extenso für die Europäische Union als Ganzes. Die deutsch-französische Dynamik ist daher der Motor Europas.
In den Zeiten der Eurokrise hat man das Gefühl, dass jedes Land, wie auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts, nur noch an seinen eigenen Vorteil denkt. Halten Sie das für gefährlich?
Ja, ich befürchte eine Schwächung der europäischen Institutionen, die dazu führt, dass wir das allgemeine europäische Interesse aus den Augen verlieren. Unsere Situation lässt sich allerdings nicht mit der zu Beginn des 20. Jahrhunderts vergleichen. Die wechselseitige Abhängigkeit unserer Staaten ist stärker geworden. Die Gefahr kommt weniger aus Europa selbst, als von außen. Ich bin beispielsweise davon überzeugt, dass der Zusammenbruch von Mali nicht nur in den Sahelstaaten einen Dominoeffekt ausgelöst hätte, sondern auch bis vor unsere Türen. Wenn Frankreich sich militärisch in diesem Land engagiert, leistet es einen Beitrag zur gemeinsamen europäischen Sicherheit. Es trägt auch die Verantwortung für die nukleare Abschreckung, die zum Gleichgewicht des Friedens über unseren Kontinent hinaus beiträgt. Aber mein Land hat weder die Berufung noch die Mittel, Weltpolizist zu werden. Diese Erkenntnis muss wachsen und zu einer gemeinsamen Übernahme der Verantwortung für unsere Sicherheit durch eine echte europäische Verteidigungspolitik führen.
Gibt es eine Lehre, die wir aus 1914 für 2014 ziehen können?
1907 hätte die damalige US-Finanzkrise zu einer verstärkten Globalisierung und zu Fortschritten in Sachen Demokratie führen können. Ihre Folge waren aber Protektionismus und ein Erster Weltkrieg, der Europa ausbluten und Amerika freie Bahn ließ. Die Krise führte zur Abschottung und die Abschottung zum Niedergang. Unsere Generation muss die Vergangenheit im Blick behalten, damit sie nicht dieselben Fehler begeht. Zwischen 1914 und 2014 kam es zur deutsch-französischen Aussöhnung und das europäische Einigungswerk nahm Formen an. Das sind unsere besten Trümpfe.
Quelle: „Das Parlament“ - Deutscher Bundestag