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Fritz Pleitgen: „Den Frieden können wir sehr schnell verspielen“

Archivmeldung vom 22.03.2017

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 22.03.2017 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt
Fritz Pleitgen (2010)
Fritz Pleitgen (2010)

Foto: Arnoldius
Lizenz: CC BY-SA 3.0
Die Originaldatei ist hier zu finden.

„Man kann sich nicht zum Maßstab der Weltperspektive machen.“ Das hat der Ex-WDR-Intendant Fritz Pleitgen den deutschen Medien ins Stammbuch geschrieben. Er fordert, ein „Maß an Bescheidenheit auch als Journalist“ walten zu lassen, auch gegenüber Russland. Vor seiner Auszeichnung durch das Deutsch-Russische Forum am 20. März sprach er mit Sputnik.

Tilo Gräser fragt im Interview: Herr Pleitgen, Sie werden heute von deutsch-Russischen Forum für Ihr Engagement für ein besseres deutsch-russisches Verhältnis ausgezeichnet. Wie beurteilen Sie das aktuelle Verhältnis und wie beurteilen Sie die Rolle der deutschen Medien in diesem doch angespannten Verhältnis?

Die gegenwärtigen Beziehungen betrachte ich als besorgniserregend schlecht und bin der Meinung, dass sich das verändern muss – und zwar zum Guten. Die Medien spielen natürlich eine große Rolle. Ich selbst bin Vertreter der Medien und verteidige die auch bei jeder Gelegenheit. Deshalb würde ich jetzt nicht von mir aus sagen, dass die Medien schuld sind, dass das Verhältnis in den letzten Jahren so schlecht geworden ist. Ich bin wirklich sehr besorgt und bin aber der Meinung, dass wir uns jetzt umso mehr anstrengen müssen, dieses deutsch-russische Verhältnis, das so wichtig ist nicht nur für unsere beiden Staaten, sondern für Gesamteuropa und für die Welt überhaupt, dass wir das mal wieder auf guten Kurs bringen. Ich hoffe, dass ich dabei auch Mitstreiter gewinne.

Was könnten Medien konkret tun und was sollte die deutsche Politik auch für ein besseres Verhältnis tun?

Was die Politik angeht, muss sie natürlich versuchen, dass auf beiden Seiten wieder Vertrauen herrscht. Das scheint mir ein großes Manko zu sein, dass die eine Seite der anderen Seite nicht traut und dass deshalb gute Vorschläge irgendwo versanden. Bei den Medien erwarte ich, dass man sich mit der Materie so intensiv wie möglich beschäftigt, damit man auch sachkundige Informationen liefern kann. Und dass man vor allen auch eines beachtet, dass die Welt aus Sicht des Einen anders aussieht als aus der Sicht des Anderen. Man kann sich nicht zum Maßstab der Weltperspektive machen. Das ist ganz wichtig, dass man dieses notwendige Maß an Bescheidenheit auch als Journalist walten lässt. Und auch die Leserinnen und Leser darauf hinweist: Versetzt Euch auch mal in die Lage der anderen Seite, um das zu verstehen.

Würden Sie sich als „Russland-Versteher“ bezeichnen?

Ich war immer der Meinung, dass Verständigung etwas ganz Wichtiges ist. Ich selbst habe außerordentlich gute Erfahrungen mit der Ostpolitik von Willy Brandt gemacht. Ich war immer ein Verfechter der Ostpolitik gewesen, manchmal auch ein bisschen zu idealistisch. Aber ich habe gesehen, was das am Ende für die Menschen bedeutet hat.

Ich habe ja die Krisen nach dem Krieg noch alle in Erinnerung, wo man geglaubt hat, jetzt kann es zu einem großen Knall kommen. Es gibt ein berühmtes Wort von Willy Brandt: „Nichts ist von Dauer.“ Wir haben uns daran gewöhnt, dass der Frieden in Europa da ist und sind der Meinung: Das ist für alle Ewigkeit. Das ist ein Trugschluss: Den Frieden können wir sehr schnell verspielen. Das müssen wir vor allen Dingen den jüngeren Generationen sagen: So wie es jetzt ist, muss das nicht immer bleiben, das kann schnell verspielt werden. Das ist meine große Sorge, dass man nicht begreift, wie schnell eine Krise sich in einen schweren und unauflösbaren Konflikt verwandeln kann. Das ist natürlich auch Aufgabe der Medien, darauf hinzuweisen. Da ich Vertreter der Medien und mich mit denen auch immer solidarisch erkläre, sehe ich, dass es dieses Bemühen durchaus gibt. Aber wir selbst, wir können ja auch etwas machen. Sie und ich, wir haben ja ein Privileg, dass wir uns an die Öffentlichkeit wenden können. Dieses Privileg sollten wir auch mit großem Verantwortungsbewusstsein wahrnehmen.

Für mich ist es sehr wichtig, dass wir ein sehr gutes und vertrauensvolles Verhältnis zu Russland haben. Ich habe gute Gesprächspartner in Russland. Wir haben einen Verein, der heißt „Kinder von Perm“. Dieser Verein hat mit Spendenmitteln und mit Unterstützung von russischer Seite eine Kinder-Krebs-Klinik in Perm am Ural gebaut. Wobei ich außerordentlich gute Erfahrungen mit der russischen Seite gemacht habe, vor allem mit dem damaligen Gouverneur Gennadii Igumnow – ich muss das immer wieder betonen –, der völlig vertrauensvoll mit uns zusammengearbeitet hat. Wir haben dort etwas, was Frank-Walter Steinmeier als Musterbeispiel genannt hat, es ist nicht groß, aber es ist ein Muster, denn wir haben innerhalb kürzester Zeit ein Krankenhaus gebaut, mit weniger Mitteln als ursprünglich geplant und vorfristig fertiggestellt. In diesem Krankenhaus sind tüchtige russische Ärztinnen und Ärzte am Werk und die haben in diesen 20 Jahren, wo diese Kinder-Krebs-Klinik besteht, sicher über 2.000 Kindern das Leben gerettet, die früher verloren gewesen wären. Da sieht man, was man schafft, wenn man vertrauensvoll zusammenarbeitet.

Warum hat sich dieses Verhältnis so verschlechtert? Warum sind die Hoffnungen von 1989/90 nicht wahr geworden?

Als Willy Brandt die Ostpolitik betrieb, da hat er eigentlich nur für die Bundesrepublik Deutschland zu sprechen brauchen. Er hatte allerdings das Problem, dass Deutschland damals noch nicht souverän war. Er musste ja erst einmal die westlichen Alliierten gewinnen, denn damals herrschte Kalter Krieg. Das waren keine besonders angenehmen Verhältnisse. Aber er sprach nur für Bonn.

Inzwischen sind wir in einem großen Wirtschaftsbündnis und in einem großen militärischen Bündnis. Wir müssen natürlich auch Rücksicht auf unsere Partner nehmen. Das kompliziert gelegentlich das Verfahren. Das ist heute komplizierter geworden als das 1989 aussah. Ich glaube, 1989 sind auch viele Dinge nicht so vorhergesehen worden wie sie dann nachher eingetreten sind. So dass also Versprechungen, die gemacht wurden, damals auch gar nicht eingehalten werden konnten, weil danach eine galoppierende Entwicklung eingesetzt hat. Auf einmal haben sich die Verhältnisse völlig verändert und damit sind die beteiligten Parteien nicht so richtig fertig geworden. Aber ich hoffe, wir sind ja noch jung genug, ich bin ja erst 79, wir können noch allerhand machen, dass das jetzt wieder auf das richtige Gleis kommt."

Fritz Pleitgen (Jahrgang 1938) wurde am 20. März in Berlin vom deutsch-Russischen Forum mit dem Dr. Friedrich Joseph Haass-Preis für sein Wirken für die deutsch-russische Beziehungen ausgezeichnet (online hier: http://www.deutsch-russisches-forum.de/festveranstaltung-des-deutsch-russischen-forums-e-v/4541). Pleitgen war seit 1970 und bis 1977 der erste ARD-Korrespondent in Moskau und später unter anderem von 1995 bis 2007 Intendant des Westdeutschen Rundfunks (WDR). Er selbst hatte über das Wirken des deutschen Arztes Haass in Russland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts berichtet.

Quelle: Sputnik (Deutschland)

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