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UNO-Veteran Jean Ziegler: „Wir leben in einer Weltordnung der Kannibalen“

Archivmeldung vom 18.11.2017

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 18.11.2017 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt
Autor Jean Ziegler: Cover von „Der schmale Grat der Hoffnung: Meine gewonnenen und verlorenen Kämpfe und die, die wir gemeinsam gewinnen werden“
Autor Jean Ziegler: Cover von „Der schmale Grat der Hoffnung: Meine gewonnenen und verlorenen Kämpfe und die, die wir gemeinsam gewinnen werden“

Buchautor Jean Ziegler gilt als einer der weltweit bekanntesten Globalisierungs- und Kapitalismus-Kritiker. Der Schweizer Politiker arbeitet seit 17 Jahren in der UNO, unter anderem berät er den UN-Menschenrechtsrat. Im Sputnik-Interview spricht er über sein neues Buch, die Macht der Konzerne, „Geier-Fonds“, den Welthunger – und: Spione in der UNO.

Derzeit herrsche eine kannibalische Weltordnung: „Transnationale Privatkonzerne haben eine Welt-Diktatur des Finanzkapitals über alle Staaten und Völker dieser Erde errichtet“, sagte Jean Ziegler (83) im Sputnik-Gespräch.

„Sie gibt unglaubliche Reichtümer in die Hände weniger Oligarchien. Die 500 größten, transkontinentalen Privatkonzerne – alle Sparten zusammen: Industrie, Banken, Dienstleistung – haben letztes Jahr 52,8 Prozent des Welt-Bruttosozialproduktes kontrolliert. Die haben eine ökonomische, politische, ideologische und finanzielle Macht, wie sie ein Kaiser, ein König und ein Papst nie gehabt haben auf diesem Planeten.“ Laut ihm haben zudem die 85 reichsten Milliardäre der Welt so viele Vermögenswerte wie 4,5 Milliarden Menschen.

Ziegler war von 2000 bis 2008 der erste Sonderberichterstatter der Weltorganisation UNO für das Recht auf Nahrung. Seit 2008 ist er Vize-Präsident des beratenden Ausschusses des UN-Menschenrechtsrats. Seine Mission: Er will das Leid dieser Welt lindern. „Diese kannibalische Weltordnung muss gebrochen werden – und die können wir brechen.“ Mittel dazu seien das Grundgesetz, Gesetze und weitere demokratische Verfassungen.

„Globale Groß-Konzerne sind für Welthunger direkt verantwortlich“

„Wenn man die Opfer gesehen hat, dann kann man nicht schweigen“, erklärte er. Auch in seinem aktuellen Buch „Der schmale Grat der Hoffnung“*  nennt er den Welthunger als eines der drängendsten Probleme unserer Zeit. „Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind auf dieser Welt. Alle fünf Sekunden. Ein Kind, das jetzt an Hunger stirbt, wird ermordet.“ Das sei ein Skandal. Zudem könne die derzeitige Landwirtschaft laut World Food Report „in der heutigen Phase der Entwicklung problemlos 12 Milliarden – also fast das doppelte der heutigen Weltbevölkerung – ernähren.“

Das sei kein Schicksal, sondern hausgemacht. Durch eine falsche Politik, durch ein falsches Wirtschaftssystem. „Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit gibt es keinen objektiven Mangel mehr an Nahrung. Es ist der ungenügende Zugang zu Nahrungsmitteln.“ Das sei Kernmerkmal der Weltordnung der Kannibalen. Dieses globale System werde getragen von den genannten 500 großen, transnationalen Unternehmen. Die Moral sei diesen Konzernen egal, es gehe nur um „Profitmaximierung in kürzester Zeit. Das sind die Herren der Welt heute. In der Dritten Welt steigen deswegen die Leichenberge.“

Neue Spezies im Raubtier-Kapitalismus: „Geier-Fonds“

In seinem neuen Buch beschreibt Ziegler die „Geier-Fonds“. Das sind westliche Finanz-Unternehmen, die ähnlich den bekannten „Heuschrecken“ agieren. „Geier-Fonds sind Investmentfonds in Steuerparadiesen. Sie kaufen auf dem sogenannten ‚Sekundär-Markt‘ zu Schleuderpreisen alte Schuldpapiere der Länder der südlichen Hemisphäre auf, gehen dann vor Gericht in New York oder in London und verlangen die 100-prozentige Rückerstattung. Und vor diesen Gerichten gewinnen sie immer wieder.“ Im Falle der Nicht-Zahlung komme es dann zu Beschlagnahmungen sämtlicher Export-Güter, sämtlicher Gold-Reserven des Landes und weiteren ähnlichen Maßnahmen.

Spionage in der UNO: „Gespräche von mir wurden abgehört“

„Der UN-Menschenrechtsrat versucht nun, diese Geier-Fonds zu verbieten. Es gelingt ihm nicht. In der letzten Session im September 2017 wurde dieser Vorschlag abgewiesen. Vor allem von den westlichen Ländern wie Deutschland, Japan, USA, Kanada, Frankreich und Spanien. Die haben das abgewiesen und die Geier-Fonds wüten weiter. Es wird nur etwas passieren, wenn die öffentliche Meinung, die Zivilgesellschaft in den demokratischen Staaten aufsteht und Druck macht. Wir können auch die deutsche Bundesregierung zwingen, für das Verbot der Geier-Fonds zu stimmen.“ Das sei möglich, es gebe keine „Ohnmacht der Demokratie.“

„Ich habe wie viele UNO-Verantwortliche die Erfahrung gemacht, dass die verschiedenen UNO-Instanzen durchsetzt sind von Spionen“, berichtete Ziegler im Interview. „Abgehörte Telefon-Gespräche und so weiter.“ Gegenmaßnahmen der UNO-Mitarbeiter sähen so aus: „Wenn Sie irgendein wichtiges Gespräch führen, dann gehen Sie mit ihrem Gesprächspartner den See entlang – das UNHCHR-Gebäude, das Menschenrechts-Hochkommissariat liegt direkt am Genfer See – wo das Wasser Geräusche macht, und regeln ihr Gespräch dort. Nie im Haus, nie per Telefon, nie per E-Mail. Oder irgendeine andere Technologie. Das ist ein Standard-Prinzip, das wir anwenden müssen.“ Nur so könne gesichert werden, dass man nicht von Spionen abgehört wird.

Der Schweizer verriet, dass er vermutlich auch schon mal abgehört wurde. 2002 habe der israelische Botschafter in der UNO-Generalversammlung Abhör-Protokolle von Gesprächen mit ihm und Vertretern der palästinensischen Hamas sowie PLO-Leuten präsentiert. Ziegler habe diese Gespräche für „hochgeheim“ gehalten. „Der Botschafter hat Protokolle von Gesprächen mit mir aus Gaza, auch Gespräche, die ich in Genf und New York geführt habe, vorgelesen. Es ist fast eine Banalität zu sagen, dass die UNO durchsetzt ist von Spionen, von praktisch allen Mächten, die solche Spionage-Operate unterhalten.“

*Jean Ziegler: „Der schmale Grat der Hoffnung: Meine gewonnenen und verlorenen Kämpfe und die, die wir gemeinsam gewinnen werden“, C. Bertelsmann Verlag, Frankfurt/M., 320 Seiten, 1. Auflage März 2017

Quelle: Sputnik (Deutschland)

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