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Sicherheitspolitischer Experte: ,,Die Fliehkräfte in der NATO sind enorm"

Archivmeldung vom 17.04.2010

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 17.04.2010 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt
NATO (North Atlantic Treaty Organization)
NATO (North Atlantic Treaty Organization)

Vier Jahrzehnte bewahrte die NATO den Frieden. Das Kollabieren ihres Gegners stürzte sie in eine Identitätskrise. Die USA wollen die NATO im Kampf gegen den islamistischen Terror weltweit agieren lassen. Ein Plan, der das Bündnis zu spalten droht, wie Prof. Johannes Varwick im Interview sagt.

Ist die NATO 61 Jahre nach ihrer Gründung auf dem Weg zum Weltpolizisten oder auf dem Weg in die Bedeutungslosigkeit?

Prof. Johannes Varwick: Ich fürchte, dass sie im Moment zumindest in schwierigem Fahrwasser ist. Die Interessenunterschiede zwischen den NATO-Mitgliedern sind so enorm, dass man zwar noch nicht von drohender Bedeutungslosigkeit sprechen kann, aber von einer tiefgreifenden Krise.

Sie unterteilen die Geschichte der NATO in drei Perioden. Wodurch sind diese gekennzeichnet?

Prof. Varwick: Wir haben die klassische NATO-I-Phase, die definiert wurde durch einen klaren Feind im Osten. Das waren die ersten vier Jahrzehnte der NATO von 1949 bis 1989. In der Phase der NATO II stand nicht mehr der Verteidigungsgedanke im Vordergrund, sondern der, Stabilität zu exportieren. Zunächst über Kooperationsangebote an ehemalige Warschauer-Pakt-Staaten bis hin schließlich zum Angebot der Mitgliedschaft. Dann hat sich die NATO um Polen, Ungarn, Tschechien sowie ehemalige Sowjetrepubliken erweitert. Die Phase des Stabilitätstransfers endete ungefähr 1999 mit dem Kosovo-Krieg. Damals begann die Phase NATO III: Jetzt versucht die NATO, umfassend Sicherheit auch außerhalb ihres Bündnisgebietes zu gewährleisten. Seit dieser Zeit steht die NATO in der Kritik, sich zum Weltpolizisten zu wandeln. Zumindest aber steht das Bündnis vor Herausforderungen. Denn die Organisation ist im Vergleich zur Gründung völlig neuartig, nur der Name blieb. Als klassisches Verteidigungsbündnis umfasste die NATO nur zehn Staaten.

Muss sich ein Pakt von bald 29 Mitgliedern von dem Leitbild verabschieden, so homogen sein zu können, dass er als Ordnungsmacht agieren kann?

Prof. Varwick: Dem würde ich voll zustimmen. Die Fliehkräfte in dem Bündnis sind mittlerweile enorm, weil die Programmatik umfassender und anspruchsvoller geworden ist. Im Kalten Krieg war die Welt einfacher. Man hatte einen Feind, das schweißte zusammen. Heute sehen die Mitgliedsstaaten die jeweiligen Bedrohungen sehr unterschiedlich -- und reagieren entsprechend unterschiedlich. Der Kitt eines gemeinsamen äußeren Feindes ist weg. Diese eigentlich positive Entwicklung hat die negative Folge, dass die Verbündeten angesichts von neuartigen Bedrohungen, die eigentlich Einigkeit erfordern, nicht zu einer gemeinsamen Linie finden.

In der Georgien-Krise zeigte sich ein besonders starker Dissens zwischen alten und neuen Mitgliedern. Wird das Verhältnis zu Russland zum Stolperstein für das Bündnis?

Prof. Varwick: Das ist bereits ein Stolperstein. Insbesondere die neuen Mitglieder, die baltischen Staaten, Ungarn, Tschechien und Polen sind der NATO beigetreten, weil sie Schutz vor Russland wollten. Die westeuropäischen Staaten und auch die USA sehen das mittlerweile völlig anders. Die Amerikaner sehen sogar in der Einbindung der Russen eine der zentralen künftigen Aufgaben der NATO. Die europäische Welt ist für die Amerikaner uninteressant geworden. Eine Einbindung Russlands würde das Gewicht der NATO in Asien erhöhen. Hier sträuben sich die neuen Mitglieder aber vehement.

Ist die NATO von Ausbildung und Material her überhaupt gerüstet für den Sprung von einer eurozentrischen Abschreckungs- zu einer globalen Interventionsallianz?


Prof. Varwick: Sie ist im Moment nicht sonderlich gut dafür geeignet. Zwar versucht sie sich an den neuen Aufgaben in vielen Einsätzen vom Kosovo bis Afghanistan. Aber dort zeigen sich genau die geschilderten Schwierigkeiten. Einzelne Staaten mobilisieren nur sehr zögerlich ihre Ressourcen, weil eine gemeinsame Sicht der Bedrohungslage kaum noch gegeben ist. In Afghanistan etwa engagieren sich die USA sehr intensiv, andere Staaten agieren dagegen nur mit angezogener Handbremse. Im Resultat geht die NATO den Einsatz nur mit halber Kraft an -- ein Grund dafür, dass das Bündnis an Bedeutung verliert.

In Afghanistan zerbrach das Selbstbewusstsein der Roten Armee. Wird sich die NATO noch einmal zu einer Wiederaufbaumission aufraffen können, falls der Einsatz in Afghanistan scheitert?

Prof. Varwick: Ich fürchte, nein. Wenn die NATO in Afghanistan scheitert, ist sie in größten Schwierigkeiten. Denn eine solche Niederlage wäre das Signal, kontrovers wahrgenommene Einsätze, bei denen nicht alle an einem Strang ziehen, künftig zu unterlassen. Dann würde sich das Bündnis vermutlich auf die alte Funktion zurückziehen, äußere Feinde abzuschrecken. Da dieser Feind aber nicht in Sicht ist, würde sich der NATO die Existenzfrage stellen.

Werden die Europäer den USA in der Vorstellung folgen, dass die NATO eine global agierende Allianz sein soll?

Prof. Varwick: DIE Europäer gibt es nicht mehr. Es wäre schön, denn wenn es eine europäische Stimme gäbe, würde sie in Washington auch Gehör finden. Solange Europa aber uneinig ist, fällt es den Amerikanern leicht, sich immer den Partner herauszupicken, der am ehesten den eigenen Interessen dient.

Wird die NATO der Zukunft von ad-hoc-Bündnissen von Demokratien gekennzeichnet sein in Konkurrenz zu den UN?

Prof. Varwick: Das wollen einige Strategen in den USA. Nach ihren Vorstellungen soll die NATO eine Art Kern für ein Netzwerk demokratischer Staaten werden, die sich in der Sicherheitspolitik enger zusammenschließen. Kritiker entgegnen, diese Rolle werde bereits von den Vereinten Nationen ausgefüllt. Und es wäre eine schlechte Entwicklung, wenn der atlantische Pakt in Konkurrenz zu den UN treten würde. Diese Entwicklung ist noch nicht zu Ende buchstabiert. Der Druck aus Washington wächst, die NATO zu einem globalen Bündnis zu entwickeln -- nicht zwangsläufig als Konkurrenz zur UNO, aber in Abkehr von der bisherigen Begrenzung auf den eigenen Bündnisraum.

Zerbricht über diesem Konflikt der transatlantische Wes"ten als politische Einheit?

Prof. Varwick: Das würde ich nicht so sehen. Denn die Interessen zwischen Europa und den USA sind sehr viel leichter in Übereinstimmung zu bringen als mit anderen Mächten. Europa und die USA sind quasi natürliche Partner. Einen besseren werden die USA nicht finden. Die westliche Wertegemeinschaft miteinander kooperierender Demokratien ist mehr als eine Floskel, nämlich eine solide Basis für gemeinsame Ziele.

Stört es die Harmonie in der Wertegemeinschaft, wenn sich die Europäer verstärkt bemühen, militärische Muskeln anzusetzen oder begrüßen die USA das, weil sie dann Aufgaben abgeben können?

Prof. Varwick: In diesem Punkt ist die Haltung Washingtons sehr widersprüchlich. Auf der einen Seite wollen die USA eine Entlastung, auf der anderen Seite wollen sie keine Entmachtung, die mit einer Aufrüs"tung Europas zwingend einhergeht. Derzeit haben wir die ungute Situation, eine Konkurrenz zwischen EU und NATO in der Sicherheitspolitik vorzufinden. Das bindet Ressourcen, die man an anderer Stelle sinnvoller einsetzen könnte. Man müsste stärker über eine Arbeitsteilung nachdenken. Europa bleibt auf absehbare Zeit so etwas wie eine Zivilmacht mit Zähnen, weil ihnen wegen feh"lender Ressourcen die Fähigkeit fehlt, harte Militäreinsätze durchzuführen. Würde Europa sich auf kleinere, zivil geprägte Einsätze beschränken und der NATO die größeren Kampfeinsätze überlassen, würden sich beide ergänzen, statt in Konkurrenz zu treten.

Das letzte strategische Konzept verabschiedete die NATO 1999. Wann kommt ein neues?

Prof. Varwick: Der Auftrag, ein neues strategisches Konzept zu erarbeiten, ist im April 2009 vergeben worden. Ziel ist, im November ein Konzept vorzulegen. Es hapert daran, dass es noch keine gemeinsame Sicht auf die Probleme gibt. Eine solche muss erst erarbeitet werden. Die Gefahr besteht, dass dieses Auseinanderklaffen mit Formelkompromissen überdeckt wird. Wichtig wäre aber, Klarheit über den künftigen Kurs zu gewinnen.

Aber ist es nicht per se gut, dass überhaupt über eine Strategie diskutiert wird, gerade auch in Deutschland, wo derartiges eher verpönt ist?

Prof. Varwick: Ja, das halte ich für eine gute Entwicklung. Vor allem, weil auch die Öffentlichkeit stärker über derartige Dinge diskutiert. Im Moment ist es eher so, dass es bei den Bürgern an Rückhalt fehlt für die veränderte Rolle der NATO in einer Welt, die durch asymmetrische Konflikte gekennzeichnet ist. Für Demokratien ist es aber unabdingbar, dass Mehrheiten gesucht und gefunden werden, um die Grundsätze beim Einsatz bewaffneter Macht festzulegen.

Quelle: Landeszeitung Lüneburg (Interview Joachim Zießler)

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