Tunesien zehn Jahre nach „Arabischem Frühling“: Auf Revolte folgen Krieg und Kollaps
Archivmeldung vom 18.12.2020
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Freigeschaltet durch Anja SchmittDie Aufstände, die vor zehn Jahren den Nahen Osten erfassten, haben ihre Ziele verfehlt, sagt ein tunesischer Journalist, der sich aktiv an den Protesten des Arabischen Frühlings beteiligte. Arbeitslosigkeit und Armut sind im Vergleich zu politischem Tumult und Terror die harmloseren Folgen des damaligen Aufruhrs. Darüber berichtet das russische online Magazin „SNA News“ .
Weiter heißt es dazu auf deren deutschen Webseite: "Den Tag im Dezember wird der Journalist Zied El-Heni nie vergessen: den Tag, an dem der Straßenverkäufer Mohamed Bouazizi, der laut Medienberichten von der Polizei drangsaliert worden war, sich selbst anzündete und damit Massenproteste im ganzen Land auslöste, die später unter der Parole „Arabischer Frühling“ bekannt wurden.
Damals war El-Heni als Redakteur bei der tunesischen Regierungszeitung „Al-Sahafa“ beschäftigt. So wie anderen Kollegen war es auch ihm nicht vergönnt, über die Ereignisse so zu berichten, wie sie wirklich stattfanden. Er fand dennoch einen Weg:
„Zu der Zeit war ich auch Vorstandsmitglied des Nationalen Journalistenverbands und freiberuflicher Blogger. Dies ermöglichte es mir, über das Geschehen zu berichten“, erinnert er sich.
„Nieder mit dem Regime“
Zu berichten gab es in der Tat eine Menge. Bouazizis Selbstverbrennung entfachte zunächst Proteste im entlegenen Bezirk Sidi Bouzid in der Landesmitte. Bald aber verbreiteten sich über das ganze Land Kundgebungen, in denen Menschen nach Arbeit, besseren Lebensbedingungen und Freiheiten riefen. Die Regierung weigerte sich, den Protestierenden entgegenzukommen, was nur noch größere Proteste und Zusammenstöße mit den Sicherheitskräften provozierte.
El-Heni war mittendrin und lieferte via seinen Blog detaillierte Reportagen über das Geschehen. Gemeinsam mit anderen Journalisten, die an der Lage im Land verzweifelten, führte El-Heni Mitte Januar einen Generalstreik an und beteiligte sich an Massendemonstrationen, die den damaligen Präsidenten Zine el-Abidine Ben Ali zum Rücktritt aufforderten, bis er schließlich nachgab und mit seiner Familie nach Saudi-Arabien floh.
Enttäuschte Erwartungen
Der Rücktritt beflügelte die Massen. Die Übergangsregierung, die die Macht kurz nach der Flucht des Präsidenten übernahm, zeigte sich entschlossen, den Weg der Reformen zu gehen. Neue politische Parteien wurden anerkannt anstelle der einen alten, die dem Ex-Präsidenten verbunden war. Doch mit den Parlamentswahlen 2011 war es mit den Fortschritten vorbei, als die islamistische Ennhada-Partei 90 der 217 Parlamentssitze erhielt und gemeinsam mit zwei weiteren säkularen Parteien eine Regierung bildete.
Von da an erschütterten das Land mehrere Proteste pro und contra eine konservativere Regierung. Ein Jahr später brachen erneut Spannungen aus, nach der Ermordung zweier säkularer Politiker. Einige der Protestteilnehmer machten die Ennhada und ihre Anhänger für die Mordanschläge verantwortlich.
Die säkularen Kräfte nutzten das Momentum und rangen den Islamisten in einer weiteren Wahl mehrere Parlamentssitze ab. Doch trotz der beachtlichen Erfolge vermochte es die Regierung nicht, die dringenden Anliegen anzugehen, mit denen die Menschen auf die Straße gegangen waren.
„Es stimmt, dass die Revolution Ben Ali aus dem Amt gejagt hatte, aber ihre Ziele erreichte sie nicht. Selbst das eine hehre Ziel – die Freiheit – erwies sich oft als Anarchie, die die wahren und tiefsitzenden Krankheiten unserer Gesellschaft offenlegte“, sagt El-Heni.
Und dies war freilich nicht das einzige Problem des postrevolutionären Tunesiens. Es ist mit der Zeit immer nur schlimmer geworden. Das Wirtschaftswachstum ging 2019 auf 1,5 Prozent zurück, nachdem die Wirtschaft sich zwei Jahre lang erholt hatte. Die Arbeitslosigkeit beträgt inzwischen mehr als 15 Prozent, wobei ausgerechnet die Jugend mit einer Arbeitslosenrate von 34 Prozent am stärksten betroffen ist. Armut ist ein noch dringenderes Thema geworden als beim Ausbruch der Proteste 2010: Heute sind fast 29 Prozent der Tunesier arm, während es vor zehn Jahren knapp 21 Prozent waren.
Die neuen Regierungen, die nach der Revolution im Galopp aufeinander folgten, haben es auch nicht geschafft, für mehr Sicherheit in Tunesien zu sorgen. Hunderte Tunesier verließen das Land in Richtung Syrien und Irak, um sich dem IS anzuschließen. Einige sind zwischenzeitlich zurückgekehrt und stellen eine Bedrohung für die Lage im Innern dar.
„Dies ist der Grund, warum viele Menschen in Tunesien sich nach dem Präsidenten Ben Ali zurücksehnen. Besonders jetzt, wenn die Wirtschaft schrumpft, die Korruption weiter anhält und das Land von Außenhilfen abhängig ist. Das Coronavirus und die schlimme Lage in Libyen belasten die tunesische Wirtschaft zusätzlich“, sagt der Journalist.
Trotz dieser Schwierigkeiten hofft El-Heni weiterhin auf eine bessere und demokratische Zukunft für sein Land: „Im Moment ist Tunesien nicht demokratiefähig und es wird noch einige Zeit vergehen müssen, bis wir das Ansehen wiedererlangen, das wir einst hatten. Um dorthin zu gelangen, müssen wir allerdings den Aufbau rechtstaatlicher Institutionen vollenden und Wahlen auf der Grundlage unserer neuen Gesetze abhalten. Werden die Änderungen nicht verwirklicht, wird Tunesien wahrscheinlich noch mehr Krieg und Kollaps erleben.“ "
Quelle: SNA News (Deutschland)