IGFM kritisiert Desinteresse an „Machtergreifung“ Erdoğans
Archivmeldung vom 01.04.2017
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittDer Vizepräsident des Europäischen Parlaments, Alexander Graf Lambsdorff (FDP), hat ein Ende der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei gefordert. Auf der Jahresversammlung der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) forderte Lambsdorff „Weg vom Beitritt – hin zu einem pragmatischen Nachbarschaftsvertrag“. Die IGFM kritisiert, dass sich vor den Augen Deutschlands „Teile der finstersten Geschichte Europas“ wiederhole. Der „Machtergreifung“ Erdoğans begegne Deutschland mit völliger Teilnahmslosigkeit.
Die zweifelhafte Hoffnung, „eine Diktatur auf türkischem Boden“ würde weitere Flüchtlinge von Europa fernhalten sei „reine Illusion“, so die IGFM. Erdoğans Eingreifen in den Syrienkrieg hat nach Auffassung der IGFM zur Flüchtlingskatastrophe in Syrien mit beigetragen. Seine Militäreinsätze gegen Kurden im eigenen Land haben nach Angaben der Vereinten Nationen zwischen Juli 2015 und Dezember 2016 rund 2.000 Menschen das Leben gekostet. Das türkische Militär hat in diesem Zeitraum zwischen 335.000 und 500.000 eigene Bürger vertrieben und systematisch Privateigentum von Kurden zerstört. Nach Überzeugung der IGFM drohen weitere Vertreibungen von Kurden.
IGFM: Ehrlichkeit in den Verhandlungen mit der Türkei notwendig
Alexander Graf Lambsdorff bekräftigte gegenüber der IGFM, dass das Verhältnis zwischen Europa und der Türkei seit Jahren von Unehrlichkeit geprägt sei. "Rechtlich ist die Türkei noch ein Beitrittskandidat, faktisch ist sie es schon längst nicht mehr. Seit vielen Jahren wird ein Verhandlungsprozess künstlich am Leben gehalten, ohne dass noch irgendjemand ernsthaft an dessen Erfolg glaubt. Dieses verzweifelte Festhalten an einem gescheiterten Beitrittsprozess ist unehrlich und unproduktiv - das sieht mittlerweile auch die große Mehrheit der Menschen in der Türkei so“, betonte der Vizepräsident des Europäischen Parlaments. Aus seiner Sicht „müssen wir die Verhandlungen stoppen und uns stattdessen darauf konzentrieren, gemeinsame Interessen zu finden. Es geht nicht darum, Brücken zur Türkei abzubrechen, sondern darum, den Dialog mit unserem wichtigen Nachbar Türkei auf eine ehrliche Grundlage verbesserter Zusammenarbeit zu stellen."
„Türkei ist schon vor dem Referendum eine Diktatur“
Seit dem Putschversuch vom 15. Juli sind knapp 100.000 Menschen aus dem öffentlichen Dienst entlassen und über 100.000 Menschen verhaftet worden. Über 40.000 davon werden nach wie vor gefangen gehalten, oft ohne Anklage, ohne Akteneinsicht und ohne irgendeine Möglichkeit zur Verteidigung. 28 Fernsehsender, fünf Nachrichtenagenturen, 66 Zeitungen, 19 Zeitschriften, 36 Radiosender und 26 Verlage wurden von der Regierung Erdoğan geschlossen. „Rechtstaatlichkeit existiert in der Türkei nicht mehr. Schon jetzt ist die Türkei eine Diktatur“, kritisiert IGFM-Vorstandssprecher Martin Lessenthin.
Quelle: IGFM