Transnistrien: Was bedeutet der Ukraine-Konflikt für die kleine Region
Archivmeldung vom 29.03.2023
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 29.03.2023 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Sanjo BabićWas steckt hinter den zunehmenden Spannungen in Moldawien und der abtrünnigen Region Transnistrien? Klar ist, dass die Ukraine ein besonderes Interesse an diesem Territorium hat, weil eine Militäraktion dort für Kiew in doppelter Hinsicht von Vorteil sein könnte. Eine Analyse. Dies analysieren Dmitri Trenin und Georgi Berezowskij im Magazin "RT DE".
Weiter analysieren beide auf RT DE: "Seit einigen Wochen steht Osteuropa am Rande eines neuen Krieges. Moldawien riskiert einen neuerlichen aktiven Konflikt mit der selbst ernannten Republik Transnistrien – einer separatistischen Region mit einer slawischen Mehrheit, die sich während des Zusammenbruchs der UdSSR von Chișinău losgesagt hat.
Die Ukraine hat ein besonderes Interesse an diesem Territorium, weil eine Militäraktion dort für Kiew in doppelter Hinsicht von Vorteil sein könnte. Dies würde Moskau in dieser Region in Bedrängnis bringen, da es lediglich 1.500 Soldaten als Friedenstruppen dort stationiert hat und es derzeit keine Möglichkeit gibt, Verstärkung zu entsenden. Ein militärischer Vorstoß Kiews in dieses Gebiet würde der Ukraine zudem möglicherweise den Zugang zu einem gigantischen Waffen- und Munitionsdepot verschaffen. Die Anlage in Kolbasna – in der angeblich 22.000 Tonnen Kriegsmaterial eingelagert sind – ist eine der größten in Europa und liegt nur zwei Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt.
Zu Sowjetzeiten wurden hier die strategischen Reserven des Wehrkreises West gelagert. Der größte Teil der sich dort befindenden Munition wurde jedoch nach dem Abzug der sowjetischen Truppen aus den Ländern des ehemaligen Warschauer Pakts – wie Ostdeutschland, der Tschechoslowakei und Ungarn – in diesem Lager untergebracht.
Darunter befinden sich unzählige Artilleriegeschosse und Luftbomben sowie Mörsergranaten und Patronen verschiedenen Kalibers. Jedoch hat vermutlich fast die Hälfte dieses Arsenals sein Haltbarkeitsdatum längst überschritten. Darüber hinaus befindet sich im Lager von Kolbasna eine große Menge sowjetischer Militärtechnik, darunter etwa 100 Panzer, 200 gepanzerte Mannschaftstransporter, Infanterie-Kampffahrzeuge, mehr als 30.000 Militärfahrzeuge, etwa 200 Flugabwehrsysteme, Grad-Mehrfachraketensysteme und 30.000 Maschinengewehre.
Die in Kolbasna gelagerte Munition würde ausreichen, um eine zeitgenössische Heeresgruppe auszurüsten. Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, dass die russischen Truppen die Anlage vermint haben, um sie bei einem ukrainischen Angriff zu sprengen. In einem solchen Fall besteht die Gefahr, dass gigantische Explosionen ausgelöst werden, was massive ökologische Schäden verursachen würde. Aber werden sich die zunehmenden Spannungen zu einem weiteren bewaffneten Konflikt im ehemaligen sowjetischen Raum entwickeln?
Die Sorgen Moskaus
Am 23. Februar warnte das russische Verteidigungsministerium (MoD): "Das Kiewer Regime bereitet in naher Zukunft eine bewaffnete Provokation gegen Transnistrien vor", und fügte hinzu, dass die erwartete Provokation von den Streitkräften der Ukraine (AFU) durchgeführt werde, gemeinsam mit dem Neonazi-Regiment von Asow.
"Eine inszenierte russische Offensive aus dem Gebiet von Transnistrien soll als Vorwand für die Invasion dienen. Ukrainische Saboteure, die an der inszenierten Invasion teilnehmen, werden in Uniformen der Streitkräfte der Russischen Föderation gekleidet sein",
sagte das Verteidigungsministerium voraus und stellte fest, dass man auf ein solches Szenario vorbereitet sei.
Am nächsten Tag behauptete das MoD in einer weiteren Erklärung, dass Kiew seine Vorbereitungen für eine Invasion in Transnistrien intensiviert habe. Das russische Außenministerium behauptete am selben Tag auch, dass die Ukraine militärische Ausrüstung und Personal auf dem transnistrischen Abschnitt ihrer Grenze zu Moldawien zusammenziehe. Konkret soll Artillerie verlegt worden sein und laut dem Ministerium seien über dem Gebiet immer mehr Drohnen zu beobachten.
Das Verteidigungsministerium warnte die "NATO-Mitglieder und ihren ukrainischen Schützling vor riskanten Unternehmungen". Russische Diplomaten sagten, dass alle Aktionen, die eine Bedrohung für die Friedenstruppen in Transnistrien darstellen, "nach internationalem Recht als Angriff auf die Russische Föderation betrachtet werden".
Auch der Kreml äußerte sich besorgt über die Entwicklung der Ereignisse. "Wir beobachten die Situation in Transnistrien, die uns beunruhigt, sehr genau. Die Situation ist volatil und wird von außen gelenkt", sagte Sprecher Dmitri Peskow am 27. Februar. "Wir wissen, dass unsere Gegner in der Ukraine und in europäischen Ländern zu verschiedenen Provokationen fähig sind."
Die Vorwürfe der Gegenseite
Entlang der Grenze zu Transnistrien sind eine beträchtliche Anzahl ukrainischer Truppen stationiert, was von den ukrainischen Behörden selbst bestätigt wurde. Am 27. Februar sagte die Pressesprecherin des Operationskommandos Süd der ukrainischen Streitkräfte, Natalia Gumenjuk, dass ukrainische Truppen "entlang der gesamten Länge der Grenze zu Transnistrien konzentriert sind" und ihre Zahl im Verhältnis zu den "bestehenden Bedrohungen" stehe. Sie räumte jedoch auch ein, dass die "Bedrohungen" eher "hypothetisch" seien. Gleichzeitig treibt Kiew ein Narrativ voran, das der russischen Sichtweise auf die Ereignisse entgegenwirken soll.
"Die Russen behaupten, dass die Ukraine angeblich in Transnistrien einmarschieren wird. Wir schätzen die Souveränität anderer Länder und Transnistrien ist ein Teil von Moldawien. Russland provoziert uns, in das Territorium der Republik Moldawien einzudringen. Aber Russland selbst kann vom Territorium von Transnistrien aus losschlagen",
bemerkte der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij kürzlich.
Die moldawischen Behörden, die sich hinter Kiew gestellt haben, begannen jedoch, die Existenz einer Sicherheitsbedrohung durch Transnistrien zu leugnen.
"Die moldawischen staatlichen Institutionen beobachten die Situation und können die von der russischen Seite verbreiteten Informationen nicht bestätigen",
vermeldete das Außenministerium in einer Erklärung vom 1. März. Einige Tage zuvor äußerte auch das Verteidigungsministerium der Republik Moldawien deeskalierende Erklärungen. Am 24. Februar stellte es fest, dass "derzeit keine direkten Bedrohungen für die militärische Sicherheit unseres Landes bestehen". Die Erklärung wurde abgegeben, nachdem Moskau vor einer möglichen ukrainischen Provokation unter dem Deckmantel einer "russischen Invasion" gewarnt hatte.
Im Vergleich dazu sind die früheren Äußerungen der moldawischen Regierung auffällig. Anstatt von einer fehlenden Bedrohung der nationalen Sicherheit zu sprechen, hatte Chișinău erst im vergangenen Dezember auf deren Unausweichlichkeit bestanden. Der Leiter des Informations- und Sicherheitsdienstes der Republik Moldawien, Alexandru Mustatse, hatte damals erklärt:
"Die Frage ist nicht, ob die Russische Föderation in Moldawien einmarschieren wird, sondern wann dies geschehen wird – entweder Anfang des kommenden Jahres, im Januar oder im Februar, oder später, im März oder April."
Angesichts der Behauptung, Moskau könnte eine Offensive aus Transnistrien heraus starten, hat Präsidentin Maia Sandu sogar eine Sitzung des Obersten Sicherheitsrates einberufen.
Direktor des Informations- und Sicherheitsdienstes der Republik Moldau Alexandru Mustatse (zweiter von links) und neben ihm die Präsidentin der Republik Moldawien Maia Sandu.
Der Verlust des Gleichgewichts
Transnistrien begann sich bereits vor dem Ende der UdSSR, im September 1990, von Moldawien zu lösen. Dies war eine Reaktion der lokalen Bevölkerung, die zu zwei Dritteln aus Ukrainern und Russen bestand, auf den prorumänischen Kurs, den Chișinău eingenommen hatte. Moskau versuchte diesen Konflikt zu lösen, schaffte dies jedoch nicht vor dem Zusammenbruch der UdSSR.
Nachdem Moldawien seine Unabhängigkeit erklärt hatte, brach ein bewaffneter Konflikt zwischen Chișinău und dem selbst ernannten Transnistrien aus. Die Kämpfe führten zum Tod Tausender Menschen und konnten erst nach dem Eingreifen russischer Friedenstruppen beendet werden.
Transnistrien löste sich dauerhaft von Moldawien, das sich weigerte, seine Unabhängigkeit anzuerkennen. Seitdem blieb der Status von Transnistrien ungeklärt. Die Beziehungen zwischen den beiden Seiten lassen sich am besten als "eingefrorener Konflikt" beschreiben. Die Aufrechterhaltung des Status quo und die Sicherheit der Einwohner von Transnistrien wird von russischen Friedenstruppen und einer Einsatzgruppe der russischen Streitkräfte garantiert, deren Abzug die moldawischen Behörden regelmäßig fordern.
In Erinnerung an Moskaus Rolle bei der Beendigung des Blutvergießens haben sich die Einwohner von Transnistrien in den vergangenen dreißig Jahren zu Russland hingewendet und sogar versucht, Teil der Russischen Föderation zu werden. Im Jahr 2006 hielten die lokalen Behörden ein Referendum ab, bei dem 97,2 Prozent für den Beitritt zu Russland stimmten. Im Dezember 2013 verabschiedete der Oberste Rat von Transnistrien einen Gesetzentwurf zur Umsetzung der russischen föderalen Gesetzgebung auf dem Territorium der nicht anerkannten Republik. Im folgenden März forderte der Oberste Rat von Transnistrien die russische Staatsduma auf, ein Gesetz auszuarbeiten, das der nicht anerkannten Republik den Beitritt zur Russischen Föderation ermöglichen würde.
So wie die sowjetischen Behörden vor ihnen hat das offizielle Moskau auf diese Initiativen mit großer Vorsicht reagiert. Es wurde nie über die Idee eines Beitritts von Transnistrien zur Russischen Föderation diskutiert, wodurch das fragile Gleichgewicht zwischen Chișinău und Tiraspol erhalten werden konnte. Leider wurde dieses Gleichgewicht im vergangenen Jahr ernsthaft ins Schwanken gebracht.
Nach Beginn des Konflikts in der Ukraine haben die moldawischen Behörden gesetzgeberische Maßnahmen ergriffen, um die kulturelle Präsenz Russlands in der Region zu minimieren. Sie verboten offiziell das Sankt-Georgs-Band und die Verwendung der Symbole "V" und "Z" im prorussischen Kontext. Zudem wurden sechs russischsprachige Fernsehsender geschlossen. Es gab auch Diskussionen über die Einführung von Beschränkungen im Gebrauch der russischen Sprache. Natürlich hat all das nicht dazu beigetragen, eine gemeinsame Basis mit den prorussischen Einwohnern von Transnistrien zu finden.
Eine vorgetäuschte Neutralität
Ein weiterer wichtiger Faktor, der für die Stabilität der Region wichtig ist, ist der neutrale Status von Moldawien, der in seiner Verfassung verankert ist. Dieser wurde jedoch kürzlich von den Behörden infrage gestellt. In einer Rede auf TV8 im vergangenen Dezember sagte der Vorsitzende der regierenden Partei für Aktion und Solidarität, Igor Grosu, dass das Land angesichts des Konflikts in der Ukraine nicht neutral bleiben könne, während Maia Sandu ebenfalls andeutete, dass sich der Status des Landes ändern könnte.
"Neutralität funktioniert, solange andere Länder sie beachten. Andernfalls müssen wir bereit sein, uns zu verteidigen",
sagte sie in einem Interview mit Jurnal TV. Im laufenden Jahr 2023 wird Chișinău weitere 649 Millionen Leu (etwa 32 Millionen Euro) für Verteidigungszwecke bereitstellen. Das Militärbudget wird somit um rekordverdächtige 60 Prozent steigen, was ein halbes Prozent des BIP des Landes ausmachen wird. Das Land verfüge laut Sandu noch nicht über ausreichende finanzielle Mittel, um seine Armee zu modernisieren, man sei also auf die Hilfe westlicher Partner angewiesen. Eine solche Hilfe wird bereits geleistet.
Im Juli vergangenen Jahres genehmigte die Europäische Union die Bereitstellung von 40 Millionen Euro aus der Europäischen Friedensfazilität (EPF) für die moldawische Armee. Im September folgten die Vereinigten Staaten mit der Ankündigung, dass sie eine Milliarde Dollar zur Verfügung gestellt hätten, um die Streitkräfte von siebzehn Ländern, darunter Moldawien, zu modernisieren.
Die moldawische Premierministerin Maia Sandu hält am 18. Mai 2022 eine Rede, während der Generalversammlung des Europäischen Parlaments in Brüssel.
Nach Angaben des Verteidigungsministeriums erhält die Armee des Landes Waffen von westlichen Unterstützern – und nicht nur Kleinwaffen. Kürzlich erhielt es seine erste Charge gepanzerter Kampffahrzeuge vom Typ Piranha aus Deutschland. Die moldawischen Streitkräfte beteiligen sich auch aktiv an gemeinsamen Militärmanövern mit NATO-Staaten, zuletzt gemeinsam mit Rumänien und den USA im September 2022.
Diese Ereignisse waren für Transnistrien besorgniserregend. Ende Februar sagte der Außenminister der nicht anerkannten Republik, Vitali Ignatjew, dass Moldawien de facto Teil der NATO geworden sei – das Land stelle auf NATO-Standards um, es werde mit NATO-Waffen versorgt und westliche Militäreinrichtungen und westliche Ausbilder seien auf dem moldawischen Territorium tätig.
"Weshalb Moldawien bewaffnen, solange es einen schwelenden Konflikt mit Transnistrien hat? Im Gegenteil, wir müssen über Abrüstung sprechen",
sagte der Diplomat.
All diese Ereignisse bringen Transnistrien in eine gefährliche und seltsame Lage, eingeklemmt zwischen dem unfreundlichen Moldawien und der Ukraine, die bis vor Kurzem noch als einer der Garanten des regionalen Friedens diente. Moskau würde nicht in der Lage sein, den 1.500 russischen Truppen – die meisten davon transnistrische Russen – die sich in der Republik befinden, umgehend Verstärkung zu schicken, sollte ein solcher Bedarf entstehen. Dies könnte nur auf dem Luftweg erfolgen, was derzeit unmöglich ist, da der ukrainische Luftraum durch Luftverteidigungssysteme geschützt ist.
Bis jetzt hängt das Schicksal von Transnistrien weitgehend davon ab, ob die ukrainischen Behörden beschließen werden, eine zweite Front zu eröffnen und diese Idee hat ihre Befürworter. Vor nicht allzu langer Zeit sagte der ehemalige Berater von Präsident Selenskij, Alexei Arestowitsch:
"Die Ukraine verfügt über Streitkräfte, die eine Bedrohung durch das sogenannte Transnistrien in nur wenigen Tagen beseitigen könnten. Wenn die moldawischen Behörden mit einer solchen Bitte an uns herantreten, werden wir sicherlich helfen",
versprach er."
Dmitri Trenin ist Professor an der Hochschule für Wirtschaft und Senior im Kollegium für Forschung am Institut für globale Ökonomie und internationale Beziehungen. Er ist zudem Mitglied des russischen Rates für internationale Beziehungen.
Georgi Berezowskij ist Journalist aus Moskau.
Quelle: RT DE