Wikileaks-Dokumente: US-Diplomaten ziehen über Bundesregierung her
Archivmeldung vom 29.11.2010
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittDie kurz vor der offiziellen Veröffentlichung durch "Wikileaks" stehenden mehr als 250.000 geheimen Dokumente des US-Außenministeriums belegen, wie kritisch die US-Diplomaten über die neue Bundesregierung denken. Vor allem Außenminister Guido Westerwelle (FDP) wird von den Amerikanern negativ beurteilt, berichtet der "Spiegel" in seiner heute am Montag erscheinenden Ausgabe.
Die Geheimberichte beschreiben ihn als inkompetent, eitel und amerikakritisch. Die US-Diplomaten sehen sich vor die Herausforderung gestellt, wie sie mit einem Politiker umgehen sollen, der ein "Rätsel" sei, mit wenig außenpolitischer Erfahrung und einem "zwiespältigen Verhältnis zu den USA". Westerwelle habe eine "überschäumende Persönlichkeit", heißt es beispielsweise in einer Depesche der US-Botschaft Berlin vom 22. September 2009. Deshalb falle es ihm schwer, bei Streitfragen mit Bundeskanzlerin Merkel in den Hintergrund zu treten.
Unter den Dokumenten sind allein 1719 Berichte der Botschaft Berlin. Die Amerikaner betrachten das Bundeskanzleramt in außenpolitischen Fragen als den besseren Ansprechpartner. Im Vergleich zu Westerwelle habe Kanzlerin Merkel "mehr Erfahrung in Regierungsarbeit und Außenpolitik". Doch auch mit Merkel fremdeln die US-Vertreter, intern wird sie in den Berichten "Angela ,Teflon Merkel" genannt, weil viel an ihr abgleite. "Sie meidet das Risiko und ist selten kreativ", heißt es in einem Bericht vom 24. März 2009. Die Amerikaner konstatieren, die Kanzlerin sehe die internationale Diplomatie vor allem unter dem Gesichtspunkt, welchen Profit sie innenpolitisch daraus ziehen könne. Die Koalition betrachten die US-Diplomaten insgesamt skeptisch. Merkel habe das "Joch der Großen Koalition abgeschüttelt, nur um jetzt mit einem FDP-CSUDoppel- Joch belastet zu sein", heißt es in einer Depesche vom Februar 2010.
Die US-Diplomaten verfügen offenbar über ein dichtes Informantennetz in Deutschland. So berichtet eine Quelle im Oktober 2009 mehrmals aus den laufenden Koalitionsverhandlungen zwischen Union und FDP. Bei dem Informanten handele es sich um einen "jungen, aufstrebenden Parteigänger" der FDP, schreibt der amerikanische Botschafter in Berlin, Philip Murphy, in einem Bericht vom 9. Oktober 2009. Der Liberale habe "den Botschaftsmitarbeitern schon in der Vergangenheit interne Parteidokumente angeboten". Er sei bereit gewesen, persönliche Notizen vorzulesen und Dokumente aus den Verhandlungen zu übergeben. Murphy rechtfertigt im Interview mit dem "Spiegel" die Berichte als normale diplomatische Arbeit: "Wir reden mit Leuten, man lernt sich kennen, man vertraut sich, man teilt Einschätzungen." Er sei "unglaublich wütend" auf denjenigen, der das Material heruntergeladen habe. Seine Leute hätten "nichts falsch gemacht", so Murphy, "und ich werde mich für nichts entschuldigen, das sie gemacht haben".
Philip Murphy, ist zuversichtlich, dass die deutsch-amerikanischen Beziehungen nicht unter den Wikileaks-Veröffentlichungen leiden werden. "Kurzfristig wird es möglicherweise ein paar Schlaglöcher auf der Straße geben, oder wie Sie in Deutschland sagen: etwas zerbrochenes Porzellan. Aber wir werden das überleben", sagte Murphy der Tageszeitung "Die Welt". Und weiter: "Am Ende werden die amerikanisch-deutschen Beziehungen so stark bleiben, wie sie es seit Jahrzehnten sind." Murphy sagte, die USA seien bemüht, den diplomatischen Schaden durch die Veröffentlichungen in Deutschland möglichst gering zu halten: "Wir hatten und haben eine Reihe von Begegnungen mit einer Reihe von Vertretern der deutschen Regierung. Und wir sind mit den Ergebnissen bislang sehr zufrieden", sagte der Botschafter.
Zu den Inhalten der Gespräche äußerte Murphy sich nicht, ebenso über seine persönliche Zukunft: "Ich bin volljährig, und stehe hier meinen Mann. Machen Sie sich um mich also keine Sorgen." Seine Mitarbeiter dagegen nahm er in Schutz: "Ich bedauere nichts von der Arbeit, die meine Kollegen getan haben. Ich stehe voll und ganz hinter ihnen." Er bedauere aber "zutiefst", dass bei der Veröffentlichung der Dokumente "kriminelle Energie am Werk war und Verantwortungslosigkeit."
CDU-Außenpolitikexperte: Wikileaks-Enthüllungen werden Beziehungen nicht belasten
Die Veröffentlichung interner amerikanischer Botschaftsberichte auch über deutsche Politiker wird nach Ansicht des CDU-Außenpolitikers und stellvertretenden Vorsitzenden der Unions-Bundestagsfraktion, Andreas Schockenhoff, das deutsch-amerikanische Verhältnis nicht belasten. "Dass es interne Einschätzungen gibt, gehört doch zum Leben", sagte Schockenhoff der "Saarbrücker Zeitung". "Die Partner sind alle hochprofessionell". Allerdings werde sich der persönliche Umfang künftig wohl ändern. "Man wird sich noch kontrollierter begegnen und sich noch weniger trauen, irgendeine Art von Emotionalität zuzulassen. Denn jeder der Partner muss damit rechnen, dass das alles irgendwann in der Zeitung steht".
Schockenhoff sagte, die Tatsache, dass US-Außenministerin Hillary Clinton Guido Westerwelle wie auch andere Amtskollegen vorab informiert habe, zeige, dass der Vorgang den Amerikanern offensichtlich peinlich sei. Er persönlich bewerte das Vorgehen von Wikileaks weder als gut, noch als schlecht. "Die Veröffentlichungen sind einfach Folge der technischen Möglichkeiten, die es gibt". Jedoch rate er den deutschen Botschaftern in aller Welt nicht, künftig in ihren Berichten vorsichtiger zu formulieren. Man sei auf zuverlässige und offene Einschätzungen der Botschafter über die Situation in einem Land und auch über dessen Politiker angewiesen. "Es wäre die völlig falsche Konsequenz, solche Berichte einzustellen", sagte Schockenhoff.
Netanjahu: Israel bei Wikileaks-Enthüllungen nicht im Fokus
Israel wird bei der geplanten Veröffentlichung geheimer Dokumente durch die Enthüllungsplattform Wikileaks nicht im Fokus internationaler Aufmerksamkeit sein. Dies sagte der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu am Sonntag. Normalerweise gäbe es eine Kluft zwischen öffentlichen und privaten Äußerungen, aber in diesem Fall sei diese Kluft nicht groß, so Netanjahu. Überdies sei Israel auch nicht von den USA vorab gewarnt worden, dass es sensibles Material gäbe.
Quelle: dts Nachrichtenagentur