Von Ungarn lernen: Europas Illusionismus gegen Ungarns Realismus
Archivmeldung vom 24.06.2023
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Freigeschaltet durch Sanjo BabićIn den aktuellen Konflikten wird die Europäische Union von Ungarn lernen müssen. Es ist spezifisch westlich, Grenzen überwinden zu wollen. Dies galt lange vor allem nach außen, heute umgekehrt gegenüber außen. Heute sind wir wieder einen Schritt weiter und wollen im Wokismus selbst natürliche Grenzen zwischen den Geschlechtern überwinden. Dies berichtet das Portal "AUF1.info".
Weiter berichtet das Portal: "Diese Entgrenzung einer Regenbogenideologie mit ihren Hauptsträngen Genderismus und Antirassismus gilt der Mehrheit in Polen oder Ungarn als dekadente Selbstauflösung von Kultur.
Dieser Essay von Prof. Dr. Heinz Theisen erschien zuvor im Magazin der Budapester Zeitung (25. Jahrgang / Nr. 12)
Das ungarische und polnische Beharren auf physischen und kulturellen Grenzen gilt den Aufgewachten im Westen wiederum als „rechts, autoritär und nationalistisch“.
Moralismus und Globalismus als Selbstaufgabe des Westens
Ein in globalen Kategorien denken der Moralist will die kurzfristigen Interessen seiner eigenen Gesellschaft überwinden. Bei dem Verzicht auf die Selbstbehauptung des Eigenen, den wir heute in Deutschland und weiten Teilen der westlichen Welt erleben, handelt es sich in Evolution und Ge-chichte um einen ungewöhnlichen Vorgang.
Er umfasst die Politik der offenen Grenzen und unkontrollierten Migration, mangelnde Wehrbereitschaft gegenüber Feinden, zunehmende Handlungsunfähigkeit der Europäischen Union nach außen und neuerdings auch noch den offenen Kampf gegen die eigene Kultur, die als „postkolonial, rassistisch und homophob“ verleumdet wird.
Die global denkenden Gesinnungseliten Europas fühlen sich nicht mehr ihrem jeweiligen Nationalstaat und auch nicht dem europäischen Kulturkreis, sondern der „One World“ verpflichtet. Ihre Identität liegt im Bekenntnis zur Globalität, in der sie an Luftschlössern ohne Mauern bauen. Bereitwillig opfern sie ihre Partikularinteressen – besonders eifrig in Deutschland – etwa der Autoindustrie, von Energieverbrauchern und Eigenheimbesitzern für globale und weit entfernte Ziele.
Konkrete Rechte der Staatsbürger werden abstrakten universellen Menschenrechten untergeordnet, statt Patriotismus und Gemeinwohl herrscht die Kardinaltugend „Weltoffenheit“ vor. Diese endet allerdings sofort, sobald andere nicht „weltoffen“ sein wollen, so dass eine zunehmende Polarisierung den Demokratien zusätzliche Lasten aufbürdet.
Verachtung alltäglicher Interessen des Volkes
Die Selbstbehauptung des Eigenen gilt ihm als unmoralisch. Lokale, regionale und nationale Instanzen dienen primär globalen Zielen. Gemäß der globalistischen Ideologie darf es nicht einmal länger ein eigenes „Volk“ geben, welches Vizekanzler Habeck bekanntlich „zum Kotzen“ findet. Solche flegelhaften Äußerungen schlagen sich dann in der Verachtung alltäglicher Interessen des Volkes nieder. Denn es handelt sich nicht um bloße Sprachspiele, sondern um die Arbeit an den Voraussetzungen für den Übergang von der Volksherrschaft in die Gesinnungsoligarchie. Der Marsch durch die Begriffe wird von einem politisch-medialen Komplex der guten Gesinnung vorangetrieben, mit dessen Hilfe man Gegner reihenweise ausschalten und zudem eigene Fehler verdecken kann.
Radikale jakobinische Minderheiten hat es in der Geschichte oft gegeben. Beunruhigend ist jedoch die Selbstverleugnung des Bürgertums, dem es zuvor immer auch um die Selbstbehauptung des Eigenen gegangen war. Den Moralisten und Globalisten gelang eine regelrechte Transformation des Bürgerlichen. Mit dem Appell an das Verantwortungsethos des Bürgers haben die Kultur- und Naturrevolutionäre den Köder gefunden, um Bürger aus ihrer Nahverantwortung für Familie, Gesellschaft und Staat zur globalen Verantwortung umzuleiten.
Die Europäische Union bildet nicht die erhoffte Synthese zwischen globaler und nationaler Selbstbehauptung. Sie symbolisiert in ihren Strukturen vielmehr deren Widersprüchlichkeit. Dem Bestreben der EU-Kommission, die Asylpolitik zu vereinheitlichen und von Brüssel aus zentral zu steuern, stehen – so Roland Springer – die höchst unterschiedlichen, in vielerlei Hinsicht gegensätzlichen Interessen und Sichtweisen der einzelnen Mitgliedsländer in Fragen von Asyl und Migration entgegen. Während einige Länder, allen voran Deutschland, dem Schutz der Interessen der Asylzuwanderer höchste Priorität einräumen, räumen andere, vor allem Ungarn und Polen, dem Schutz der Interessen ihrer einheimischen Bürger Vorrang ein.
Totaler Realitätsverlust und ersatzreligiöse Heilsvorstellungen
Wenn man den gemeinsamen Kern dieser Fehlsteuerungen und Widersprüche sucht, so landet man bei der Diagnose eines totalen Realitätsverlusts, der aus dekadenter Spannungslosigkeit erfolgt und insofern spätzeitliche Züge trägt. Aber gilt dies für ganz Europa? Wie schon in der Einleitung angedeutet, gilt dies für Mitteleuropa eben nicht. Die Europäische Union wird nur dann eine Zukunft haben, wenn sie sich insbesondere den Realismus der ungarischen Regierung zueigen machen kann.
Beim westlichen Moralismus und Globalismus handelt es sich um ersatzreligiöse Heilsvorstellungen, denen es im Gegensatz zu christlichen Visionen vom Heil der gesamten Menschheit am Sinn für Subsidiarität und damit für notwendige Abstufungen und fortdauernde Partikularinteressen fehlt. Nicht zuletzt zwischen den Ebenen des Diesseits und des Jenseits bräuchten die Europäer eine neue Arbeitsteilung.
Eine universale Weltordnung ist eine Illusion. Träume sind meist schöner als die Wirklichkeit, aber das Erwachen ist unvermeidlich und dann sehr unerfreulich, wenn über die Träume die Notwendigkeiten des Lebens verschlafen wurden. Dies gilt auch von der Anmaßung einer völligen Freiheit gegenüber der Natur, die nicht mehr über unser Geschlecht entscheiden soll. Wir wollen selbst Schöpfer sein. An diesem Punkt droht der westliche Liberalismus extremistische Formen anzunehmen.
Moralismus führt zu Deglobalisierung
Unterdessen droht der Moralismus den Globalismus zu besiegen und in eine aus dem naiven Idealismus des Wertewestens resultierende Deglobalisierung zu führen. Die sich anbahnende Abwendung der USA von China könnte den politischen Globalismus von einst in wirtschaftlichen Protektionismus umschlagen lassen. In dieser Haltung vereinen sich erneut Moralismus und amerikanische Machtpolitik, die dann nicht mehr auf unipolare Ausdehnung, sondern lediglich die Konsolidierung des Imperiums gerichtet wäre.
Auch gegenüber dieser gegenteiligen Übertreibung könnte Europa von der konnektivistischen Wirtschaftspolitik Ungarns lernen. Die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Werteordnungen gilt Viktor Orbán als Voraussetzung für ökonomische Konnektivität. Dementsprechend intensivieren sich Ungarns wirtschaftliche Beziehungen zu China. Hier lauert schon der nächste Konflikt, zunächst mit den USA, dann mit den transatlantisch orientierten Staaten der EU.
Budapest als Zentrum der Konservativen
Über diese Agenda ist Budapest längst zu einem geistigen Zentrum von Konservativen aus aller Welt geworden. Sie haben von der Erfolgen der ungarischen Regierung gelernt, dass nur eine intellektuelle Durchdringung der wichtigsten Narrative der Versuchung zu widerstehen hilft, sich – wie bei den britischen Konservativen oder der CDU geschehen – von Wahl zu Wahl immer mehr dem Wunschdenken „fortschrittlicher“ Parteien anzunähern und von den Notwendigkeiten der Selbstbehauptung abzuwenden.
Die umgekehrte Entwicklung Ungarns beruht neben den Prägungen der Vergangenheit auch auf der Synthese von Liberalismus und Kommunitarismus. Der mittlere Weg zwischen Freiheit und Ordnung oder auch Individuum und Gemeinschaft stellt sich sowohl dem kommunistischen als auch dem neoliberalen Universalismus entgegen. Es geht um nicht weniger, als um die nie endende Suche nach einem Gleichgewicht zwischen den Gegensätzen des Lebens.
Mit dieser Selbstbehauptungspolitik fordert Ungarn den Moralismus und Globalismus des Westens direkt heraus, was dem Land und seiner Regierung eine uneingeschränkte Abneigung einträgt, die bis hin zur Einbehaltung der Ungarn zustehenden EU-Gelder reicht.
Realismus auch gegenüber dem Krieg in der Ukraine
Im Ukraine-Krieg prallen die Großmachtpolitik Russlands, der Nationalismus der Ukrainer und die Parteinahme des Westens für die Ukraineaufeinander. Der Westen zeigt sich – anders als große Teile der Welt – solidarisch mit der Ukraine. Es gelte, die Grundlagen einer multilateralen Weltordnung zu verteidigen, in der jeder Kleinstaat gegenüber Großmächten die gleichen Rechte, etwa auf Auswahl seiner Bündniszugehörigkeit habe.
Die multilaterale Weltordnungsideestand Pate bei der Entscheidung des Westens, Russland nicht als Machtpol, sondern als multilateralen Player unter anderen zu betrachten und dessen Großmacht- und Einflusssphären keine Beachtung zu schenken. Wer im Rahmen der multilateralen Weltordnung und des Völkerrechts argumentiert, kommt unweigerlich zur unbeschränkten und einseitigen Verurteilung Russlands.
Der Idee einer multilateralen Weltordnung und ihrem Völkerrecht steht aber anders als beim innerstaatlichem Recht keine Staatlichkeit gegenüber; in diesem Falle könnte es ja nur eine Weltstaatlichkeit sein, die deren Einhaltung garantieren kann. Die Idee, dass alle Staaten gleich sind, hat mit der Realität von Großmächten und ihren Nachbarstaaten nichts zu tun. Sie ist im hohen Maße idealistisch.
In der westlichen Haltung zur Ukraine wird ein Kampf zwischen den Vorstellungen einer multilateralen und multipolaren Weltordnung ausgetragen. Multipolaristen orientieren sich nicht an Idealen, sondern an machtpolitischen Realitäten. Sie sind jedoch nicht „zynisch“, wie von den Idealisten oft behauptet, denn bei Stabilität, Ordnung und Frieden handelt es sich um hohe Werte.
Der realistische Umgang mit Macht gilt der „Realistischen Schule“ der Politikwissenschaft angesichts des eben nicht verrechtlichten, sondern im Kern anarchischen internationalen Systems als unverzichtbar. Zur Realität gehören auch die geografische Lage eines Landes sowie die Sicherheitsansprüche benachbarter Großmächte.
Waffenstarrender Idealismus des Westens
Der waffenstarrende Idealismus des Westens beruht auch darauf, dass ihm die Ukraine als eine Demokratie gilt. Nicht so den Ungarn. Das Verbot von Opposition und Medien sowie die Behandlung ethnischer Minderheiten, so auch der ungarischen habe mit Demokratie nichts tun. Den Kampf der Ukraine um ihre Unabhängigkeit bezeichnet Orbán dennoch als „heldenhaft“. Dieser könne aber nur deshalb geführt werden, weil er massiv vom Westen unterstützt wird. Bei aller Sympathie dürfe die Gefahr einer Eskalationsspirale für den gesamten Kontinent, die mit jeder neuen Waffenart ansteige, nicht übersehen werden.
Da Ungarn nicht die Macht habe, den Krieg zu beenden, möchte es – so Orbán – sich selbst schützen. Ukrainische Interessen stünden nicht vor ungarischen Interessen. An Waffenlieferungen und Sanktionen im Energiebereich beteiligt sich Ungarn daher nicht. Nicht zuletzt, weil eine Beteiligung an den Energiesanktionen angesichts von 80 Prozent Energieimporten aus Russland ein Akt der Selbstaufgabe wäre.
Die ungarische Regierung folgt der geopolitischen Bewertung von Großmächtekonflikten in der so genannten „Realistischen Schule“, die in den USA heute vor allem mit dem Namen von John Mearsheimer verbunden ist. Mearsheimer berichtete mir in einem Gespräch, dass er am Vortag von Viktor Orbán zu einem dreistündigen Gespräch empfangen worden war. Darin habe dieser seine weitgehende Übereinstimmung mit den realpolitischen Positionen erklärt.
Von Ungarn lernen
Schließlich wird der Realismus Ungarns auch in der künftigen Strategie Europas gegenüber den USA gebraucht. Beim Kampf der USA um die Weltordnung ist die EU nur ein Objekt, mit schon jetzt erkennbar werdenden negativen wirtschaftlichen und zukünftig womöglich auch verheerenden militärischen Konsequenzen.
Viktor Orbán bezieht sich häufig auf das einschlägige Buch von Klaus von Dohnanyi über „Nationale Interessen“. Die wahre Gefahr für eine völlige Zerstörung Europas liege darin, dass Europa im Falle eines russischen Angriffs zum alleinigen Kriegsschauplatz würde, ohne jedes direkte Risiko für die USA. Deutschland wäre als zentrale Nachschubbasis sofortigen Raketenangriffen ausgesetzt. Orbán fordert seit langem eine strategische Autonomie der Europäer, von der wir allerdings nach der Sprengung der Pipeline, die in jedem Fall von der CIA gutgeheißen worden sein muss, weiter entfernt sind denn je.
Zur Selbstbehauptung Europas gehört daher die Einsicht, dass es sich auch von den USA emanzipieren muss, um im Rahmen einer „Europäischen Verteidigungsgemeinschaft“ eindefensive Politik betreiben zu können. Diese sollte Europas Grenzen sichern und sich aus den Einflusssphären anderer Großmächte heraushalten.
Modell für eine realistische Politik der Selbstbehauptung
Ungarn könnte den Europäern in vielerlei Hinsicht als Modell für eine realistische Politik der Selbstbehauptung dienen. Dafür bräuchte es aber als erstes die Rückeroberung von offenen Diskursen als Voraussetzung und Inhalt einer offenen Gesellschaft. In ihr müsste wieder offen über alternative Wege gestritten werden – so, wie ich dies in Ungarn erleben durfte.
In den Konflikten zwischen Ungarn und der Europäischen Union spitzt sich der Konflikt zwischen europäischem Zentralismus und der Selbstbehauptung der Nationalstaaten, konkret zwischen den Vertretern einer „Ever closer Union“ und einem „Europa der Nationen“ zu. In ihnen geht es letztlich um den Wert der Vielfalt selbst. Die historische Forschung zu Europa ist sich darin einig, dass Europas Identität in der Vielfalt liegt.
Alle Versuche zur Vereinheitlichung Europas sind gescheitert. Gemäß diesen Erfahrungen wird die Europäische Union nur in dezentralen und subsidiären Formen als ein „Europa der Nationen“ gedeihen. Das neue Paradigma sollte heißen: „Vielfalt nach innen – Einheit gegenüber Gefahren von außen.“ Die Europäische Union muss mit der Vielfalt und Dezentralität Europas auf eine konstruktivere Weise umzugehen lernen. Ihr Umgang mit Ungarn könnte dafür zum Testfall werden."
Quelle: AUF1.info