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Armutsforscher: „Man kann Deutschland mit Brasilien und Kolumbien vergleichen“

Archivmeldung vom 13.12.2016

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 13.12.2016 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt
Bild: Bernd Kasper / pixelio.de
Bild: Bernd Kasper / pixelio.de

In Sachen Ungleichverteilung des Vermögens kann man Deutschland inzwischen durchaus mit einem Dritte-Welt-Land vergleichen. Die Superreichen werden reicher und die Zahl derer, die sich abgehängt fühlen, wächst immer mehr, stellt der Armutsforscher Prof. Dr. Christoph Butterwegge in einem Sputnik-Interview fest.

In dem Interview heißt es: "Was ist in Deutschland ungerecht verteilt und ist diese Unzufriedenheit der Ungleichverteilung berechtigt?

Besonders krass ist die Verteilungsschieflage beim Vermögen.  Vermögen ist aus meiner Sicht wichtiger als das Einkommen, denn Einkommensmöglichkeiten können wegfallen, Vermögen dagegen bleibt. Es gibt Familien in Deutschland, die 20 bis 30 Milliarden Euro Privatvermögen haben. In Ländern wie der Ukraine, in Russland oder Griechenland würde man diese Menschen als Oligarchen bezeichnen. In Deutschland werden sie verharmlosend mit dem Kosenamen „Familienunternehmer“ belegt. In diesen wenigen Familien konzentriert sich das Vermögen.

Auf der anderen Seite haben 20,2 Prozent aller Menschen in Deutschland überhaupt kein Vermögen und nach Angaben des DIW (Deutsches Institut für Wirtschaft) sogar 7,4 Prozent der Menschen mehr Schulden als Vermögen haben. Nimmt man die Zahlen zusammen, dann sind das fast 30 Prozent. Diese Leute sind nur eine Kündigung oder eine schwere Krankheit von der Armut entfernt.

Wenn sie das so beschreiben: Ist es nicht immer schon gewesen, dass Reiche reich bleiben und Arme arm? Oder ist die Schere gerade in den letzten Jahren besonders auseinandergeklappt?

Das hat zugenommen und führt immer mehr dazu, dass die Verhältnisse in der Bevölkerung als ungerecht empfunden werden. Manche fühlen sich abgehängt, die Mittelschicht fühlt sich vom sozialen Abstieg bedroht. Es ist schon so, dass sich die Gesellschaft in Sachen Vermögen in oben und unten polarisiert.

Daraus resultieren dann politische Verwerfungen: Viele Menschen beteiligen sich nicht mehr an Wahlen, insbesondere Hartz IV-Empfänger. Andere wiederum wenden sich rechtspopulistischen Parteien und Gruppierungen wie der AfD oder PEGIDA zu. Da ist ein wachsender Unmut in der Bevölkerung spürbar. Ich halte das zumindest für verständlich.

Wenn man Angst hat vor dem sozialen Abstieg, reagiert man häufig irrational. So war es auch Ende der 20er Jahre in der Weltwirtschaftskrise, als sich das Kleinbürgertum der NSDAP zuwandte.

Wie kann denn die Politik dagegen lenken? Wenn man sich den CDU-Parteitag vergangene Woche ansieht: Da ist nicht viel passiert in die Richtung, oder?

Nein, ganz im Gegenteil. Da hat man beschlossen, dass keine Steuern erhöht werden dürfen. Das ist so eine Art Merkel-Dogma, genauso wie die schwarze Null das Markenzeichen von Finanzminister Schäuble ist. Das ist natürlich beides völlig falsch. Wenn es wirtschaftliche Krisenerscheinungen gibt und Menschen in soziale Nöte kommen, dann muss der Staat darauf eigentlich mit einer sozialpolitischen Großoffensive reagieren. Er muss diejenigen auffangen, die sozial abzustürzen drohen. Das kostet nun mal Geld. Die Bildung, also bessere Betreuung in den Kindertagesstätten und bessere Ausstattung der Schulen, müsste über eine sozial gerechte Steuer zum Staat fließen, über eine progressive Besteuerung der Reichen und Superreichen. Eine solche Steuerpolitik ist mit der Union nicht zu machen. Deshalb werden sich die Probleme noch verschärfen.

Wie würde eine gerechtere Besteuerung konkret aussehen — oder anders gefragt: Wie würden sie die Superreichen zur Kasse bitten?

1997 hat die Regierung Kohl die Vermögenssteuer nicht mehr erhoben. Das wäre ein geeignetes Instrument, um die großen Vermögen zur Kasse zu bitten. Etwas Ähnliches gibt es bei der Erbschaftssteuer: Da hat man 2009 Regelungen getroffen, die es ermöglichen, große Betriebsvermögen an die nächste Generation weiterzuvererben, ohne dass die Erben betriebliche Erbschaftssteuer zahlen müssen. Da sind riesige Firmenimperien verschenkt worden, um diese Steuer zu zahlen. Konkret hat der Staat zwischen 2009 bis 2015 etwa 50 Milliarden Euro an Erbschaftssteuer eingebüßt. Ich finde, dass Firmenerben genauso zu Erbschafts- beziehungsweise Schenkungssteuer herangezogen werden sollen, wie das gilt, wenn man beispielsweise drei Eigentumswohnungen erbt. Dann muss man nämlich Erbschaftssteuer zahlen. Steuerfrei sind auch Beteiligungen im Ausland: Wer beispielsweise in Australien Anteile an einer Holding hat, muss auch keine Erbschaftssteuer zahlen. Dabei geht es aber nicht um die Rettung deutscher Arbeitsplätze.

Warum tut sich die Politik so schwer? Haben Verschwörungstheoretiker recht, die sagen: Nicht Politik, sondern Geld regiert die Welt?

Reiche sind meistens auch politisch einflussreich. Die haben Lobbyisten und damit Einflussmöglichkeiten, die Politik in diese Richtung zu bewegen. Das konnte man zum Beispiel bei der Diskussion um die Erbschaftssteuer sehen. Da haben die „Stiftung Familienunternehmen“ und der „Verband der Familienunternehmer“ auf viele Art und Weise auf die Gesetzgebung Einfluss genommen haben. Politiker zu Verbandstagen eingeladen und Gutachten von renommierten Rechtswissenschaftlern erstellen lassen, die besagten, dass im Fall von Erbschaftssteuerzahlungen Betriebe enteignet würden.

Außerdem gab es Drohungen, die Betriebe ins Ausland zu verlagern. So haben die Reichen Druck auf die Politiker ausgeübt. Das können Arme nicht, die haben keine Lobby. Wenn ein neoliberaler Wind weht wie zuletzt, haben es Reiche einfach, die Politik nach ihren Gunsten zu beeinflussen.

Was passiert denn, wenn es den armen Leuten in Deutschland und in Europa reicht? Wobei, es gibt ja noch ärmere Länder… Trauriger Rekord: Fast jeder 10. in Deutschland von Armut bedroht

Na, die Situation in Deutschland ist schon vergleichbar mit der in den USA. Auch mit Ländern wie Brasilien und Kolumbien, an die man in Deutschland immer denkt, wenn man fragen würde: Wo ist denn die Kluft zwischen arm und reich besonders tief. In Deutschland sieht es ganz ähnlich aus, obwohl es nicht ins Bewusstsein drängt. Man hält sich für ein Land, in dem die Soziale Marktwirtschaft herrscht, damit auch das soziale einen größeren Einfluss hat. Anders als in den angelsächsischen Ländern, in denen Neoliberalismus stärker ausgeprägt sein mag. Aber das hat sich inzwischen stark angeglichen, was sich in fast allen Umfragen zeigt: Die Unzufriedenheit im Land ist groß.

Das komplette Interview finden Sie hier: https://de.sputniknews.com/gesellschaft/20161212313733164-armut-deutschland-brasilien-kolumbien/

Quelle: Sputnik (Deutschland)

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