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Proteste in Istanbul werden Thema bei Justizministerkonferenz

Archivmeldung vom 11.06.2013

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 11.06.2013 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Manuel Schmidt
Jörg-Uwe Hahn Bild: fdp-hessen.de
Jörg-Uwe Hahn Bild: fdp-hessen.de

Die Verhaftung Dutzender Juristen während der Proteste in Istanbul wird Thema bei der Frühjahrskonferenz der Länderjustizminister im saarländischen Perl-Nennig. "Ich werde das Thema auf der morgen beginnenden Justizministerkonferenz ansprechen", sagte der hessische Justizminister Jörg-Uwe Hahn (FDP) "Handelsblatt-Online".

Zugleich forderte er die türkische Regierung auf, "unsere Kolleginnen und Kollegen umgehend freizulassen, damit sie wieder ihre Arbeit aufnehmen können". Hintergrund sind Agenturberichte, wonach die türkische Polizei im Zuge der Proteste auf dem Istanbuler Taksim-Platz inzwischen in ganzer Breite gegen Demonstrierende vorgeht.

Auch im Istanbuler Zentralgericht Caglayan - dem größten Justizpalast Europas - rückten die Sicherheitskräfte demnach an, nachdem sich Anwälte dort dem Protest gegen die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und den Polizeieinsatz anschlossen. Die Polizei habe mindestens 50 demonstrierende Juristen abgeführt.

Hahn, der auch stellvertretender hessischer Ministerpräsident ist, sagte dazu: "Wenn die ersten Berichte aus Istanbul zutreffen, beunruhigt mich das sehr. Wenn Richter anfangen, Verteidiger von Demonstranten verhaften zu lassen, dann ist das keine bloße Übersprunghandlung, sondern ein ernsthafter Verstoß gegen rechtsstaatliche Grundprinzipien."

Die türkische Polizei hat am Dienstagmorgen den Taksim-Platz in Istanbul gestürmt, nachdem Demonstranten diesen zwölf Tage lang besetzt hatten. Medienberichten zufolge drang die Polizei unter dem Einsatz von Tränengas, Wasserwerfern und Panzerfahrzeugen auf den Platz vor. Die Aktivisten warfen mit Steinen und kleineren Brandsätzen auf die Polizisten, wurden aber vertrieben. Sie flüchteten größtenteils in den angrenzenden Gezi-Park, in dem hunderte Protestler ihre Zelte aufgeschlagen haben. Ministerpräsident Erdogan hatte am Montag bekanntgeben lassen, dass er sich am Mittwoch mit Organisatoren der Proteste treffen wolle.

EU-Liberaler Lambsdorff setzt in Türkei-Konflikt auf Staatspräsident Gül

Der Vorsitzende der deutschen Liberalen im Europaparlament Alexander Graf Lambsdorff erwartet in der Türkei einen Machtkampf zwischen Premierminister Recep Tayyip Erdogan und Staatspräsident Abdullah Gül. "Alles läuft auf die Frage hinaus: Erdogan oder Gül. Daran wird sich die Zukunft der Türkei entscheiden", sagte Lambsdorff dem "Handelsblatt".

In der Regierungspartei AKP werde es zu heftigen Auseinandersetzungen über das harte Vorgehen Erdogans gegen die Demonstranten im Lande kommen, erwartet Lambsdorff. Dabei werde Gül "einen positiven Gegenpol" zu Erdogan bilden.

Der Staatspräsident trete "viel offener, konzilianter und liberaler" auf als der Premierminister. Dessen Verhalten gebe Anlass zu der Befürchtung, dass die Türkei zu einem autoritär regierten islamischen Staat werden könne. An dem Punkt sei das Land aber längst nicht angelangt.

Bislang verfüge die Türkei sehr wohl über funktionsfähige demokratische Institutionen. Deshalb hätten deutsche Investoren in dem Land bislang auch nichts zu befürchten. Die EU müsse bei Erdogan darauf pochen, dass die Türkei als EU-Beitrittskandidat die politischen Grundwerte der EU respektiert. "Die EU muss darauf bestehen, dass sich die Türkei an die politischen Kriterien von Kopenhagen hält, dass sie also Minderheitenrechte und die Versammlungsfreiheit respektiert", sagte Lambsdorff, der im Europaparlament dem Ausschuss für Außenpolitik angehört.

Koalition und Opposition fordern EU zum Handeln gegen türkische Führung auf

Mit scharfen Worten haben Politiker von Koalition und Opposition den neuen gewaltsamen Polizeieinsatz gegen Demonstranten auf dem Taksim-Platz in Istanbul kritisiert und Konsequenzen gefordert. "Das massive Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte ist inakzeptabel, es macht die von Ministerpräsident Erdogan geäußerte Dialogbereitschaft völlig unglaubwürdig", sagte der Vize-Vorsitzende der Unions-Bundestagsfraktion, Andreas Schockenhoff (CDU), "Handelsblatt-Online".

Zudem widerspreche die Polizeigewalt europäischen Werten, insbesondere der Meinungs- und Versammlungsfreiheit, zu denen sich die Türkei als Mitglied des Europarates verpflichtet habe. Schockenhoff fordert von den Nato-Staaten, dem türkischen Partner "sehr deutlich" zu verstehen zu geben, dass dieses Verhalten für ein Mitglied einer Wertegemeinschaft wie der Nato "unwürdig" sei.

Der CDU-Politiker verlangte zudem von der Hohen Beauftragten für die EU-Außenpolitik, Catherine Ashton, und dem EU-Erweiterungskommissar Stefan Füle, "umgehend in direkten Gespräche dem türkischen Ministerpräsidenten deutlich zu machen, dass das massive Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte eine deutliche Belastung für die EU-Türkei-Beziehungen bedeutet". Allerdings, fügte Schockenhoff hinzu, sollten die EU-Erweiterungsgespräche fortgesetzt werden, gerade auch um Einfluss und Druck auf die Türkei ausüben zu können.

Auch die SPD sieht Handlungsbedarf. "Das Vorgehen der Polizei konterkariert die Ankündigung von Erdogan am Mittwoch, die Führer der Protestbewegung zu treffen und trägt unnötig zur Eskalation bei", sagte der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Rolf Mützenich. In Fragen der Menschenrechte mache es keinen Unterschied, ob man Mitglied der EU sei oder nicht.

Der Grünen-Politiker Volker Beck warnte vor vorschnellen Reaktionen der EU-Partner. "Ausgerechnet in dieser Situation, in der es einen Aufstand gegen antidemokratische Entwicklungen gibt, ist ein Aussetzen der Beitrittsverhandlungen ein fatal falsches Signal. Wer jetzt fordert, die Beitrittsverhandlungen auszusetzen, fällt den demokratischen Demonstranten in den Rücken und erklärt deren Kampf für verloren", sagte Beck "Handelsblatt-Online".

Auch der SPD-Außenpolitiker Mützenich würdigte die Proteste auf dem Taksim-Platz als Zeichen für eine kritische und selbstbewusste Bürgergesellschaft, die Verantwortungsbewusstsein und Respekt der politischen Klasse einfordere. "Die Behörden und die Polizei müssen mit dazu beitragen, dass die Proteste friedlich bleiben", sagte er. "Die politisch Verantwortlichen haben hier eine große Verpflichtung."

Mißfelder sieht deutliche Versäumnisse in deutscher Türkei-Politik

Der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Philipp Mißfelder, hat angesichts der aktuellen Bilder aus der Türkei selbstkritisch eingeräumt, dass seine Partei und die Bundesregierung in den vergangenen Jahren zu wenig Einfluss auf die Politik des Landes genommen hätten.

"Wir haben es versäumt, die von uns bevorzugte privilegierte Partnerschaft mit der Türkei in Europa mit Leben zu füllen. Das war ein Fehler, das haben wir nicht geschafft. Wir hätten der Türkei so viele gute Angebote machen müssen, dass sie sich an anderer Stelle auch genötigt gefühlt hätte, umzudenken", erklärte Mißfelder im Sender Phoenix. So sei die Forcierung wirtschaftlicher Zusammenarbeit durchaus möglich gewesen bei gleichzeitiger Forderung nach religiöser Freiheit. "Ich hätte es für unproblematisch gehalten, die Türkei in eine europäische Freihandelszone voll zu integrieren", so der Christdemokrat weiter.

Derzeit sehe er jedoch geringe Chancen, mit der türkischen Regierung zeitnah in neue Gespräche über die europäische Zukunft zu kommen. "Dieser Zug ist erst einmal abgefahren, denn innenpolitisch eskaliert es derzeit und das kann auch Auswirkungen auf die Außenpolitik haben", glaubte Mißfelder. Allerdings stehe für ihn auch fest, dass der Gesprächsfaden rasch wieder aufgenommen werden müsse. "Europa braucht die Türkei, wir brauchen das Land als Mittler."

Der erste Parlamentarische Geschäftsführer von Bündnis 90/Die Grünen, Volker Beck, sah den aktuellen Protest vieler türkischer Bürger als den Ruf nach demokratischeren Strukturen am Bosporus. "Da gehen Menschen auf die Straße, deren Herz für traditionelle europäische Werte schlägt. Die Bürger haben das Gefühl, dass sie überhaupt nicht mehr gefragt werden", so Beck.

Keinesfalls dürfe man jetzt in Europa der Türkei die europäische Perspektive verschließen. "Wir wollen die Tür für die Türkei offenhalten." Voraussetzung sei jedoch die Einhaltung der Menschenrechte und die Wahrung der Religionsfreiheit.

Özdemir: EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei müssen weitergehen

Der Vorsitzende der Grünen, Cem Özdemir, hat davor gewarnt, angesichts der Proteste in Istanbul die Beitrittsverhandlungen zwischen der EU und der Türkei einzufrieren. "Wir dürfen nicht den letzten Hebel zur Unterstützung der Demokratisierung der Türkei aus der Hand geben. Es würde das Gegenteil davon bewirken, was wir uns erhoffen: eine europäischere und demokratischere Türkei", sagte Özdemir der "Stuttgarter Zeitung".

Die Proteste seien Teil einer Bewegung, die das Zeug habe, die Türkei nachhaltig zu verändern. "Man bekommt eine Ahnung davon, wie die Türkei sein könnte, wenn der Staat seine Bürger so leben lassen würde, wie sie selbst gerne wollen", so Özdemir. Er hoffe, dass es nicht zu einer Eskalation kommt. "Die Menschen erwarten jetzt aber auch eine Veränderung", betonte Özdemir. "Erdogan hat ja Recht, wenn er sagt, dass er demokratisch gewählt wurde. Aber auch die Gegner haben Recht, wenn sie sagen, dass eine gewonnene Wahl nicht bedeutet, dass die Sieger den Verlierern ihren Lebensstil aufzwingen."

Quelle: dts Nachrichtenagentur

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