Annalena Baerbock: "Wiedervereinigung Europas" auf den Schultern ihres Wehrmacht-Großvaters?
Archivmeldung vom 25.05.2021
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Freigeschaltet durch Sanjo BabićMit historischen Details nimmt es die Chef-Grüne Annalena Baerbock bekanntlich nicht so genau. Was sie sich in einer Ansprache bei der US-Denkfabrik Atlantic Council leistete, sind jedoch mehr als kleine Fehltritte. Geht es hier um eine umfangreiche Neuinterpretation der europäischen Geschichte? Dies berichtet das Magazin "RT DE" unter Verweis auf Videoaufnahmen.
Weiter berichtet RT DE: "Anfang Mai dieses Jahres trat die Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen) bei einem Onlinetreffen, veranstaltet von der US-amerikanischen Denkfabrik Atlantic Council, auf. Dabei machte sie untertänig deutlich, dass sie die transatlantische Führerschaft der USA anerkennen und alle Schritte bereit sei zu gehen, die Washington diktiere. Atlantic Council fasste Baerbocks Botschaft kurz zusammen: "She's in sync with Biden" ("Sie ist in Synchronisation mit Biden").
Es lohnt sich, einen Teil der Rede Baerbocks, wo sie ihre Motivation für ein "friedliches Europa" darstellt, zu analysieren. Das englischsprachige Original findet sich in dem YouTube-Video. In deutscher Übersetzung formulierte die Grünen-Chefin:
"Ich komme aus einer Region um Berlin. Sie wird Brandenburg genannt. Das war Ostdeutschland. Sie hat eine direkte Grenze über den Fluss Oder zu Polen. Und mein Großvater kämpfte dort im Winter 1945 an diesem Fluss, an dieser Grenze.
Ich stand 2004 auf dieser Brücke, die offensichtlich wiederaufgebaut wurde, zwischen Polen und Deutschland, als der Außenminister Joschka Fischer und sein polnischer Amtskollege erneut die Wiedervereinigung Europas feierten. Das war wirklich der Moment, als ich dachte: 'Wow, wir stehen nicht nur auf den Schultern von Joschka Fischer, sondern auch auf denen unserer Großeltern, die es möglich machten, dass Länder, die Feinde waren, erneut nicht nur in Frieden, sondern auch in Freundschaft zusammen sind'. Dies ist der Platz, wo ich stehe in meinem Kampf für ein Europa, das in Freundschaft und einen gemeinsamen, integrierten Markt lebt."
Die Jahresuhr steht niemals still …
Baerbock beginnt mit der Behauptung, sie käme aus Brandenburg – absurderweise als "Region um Berlin" bezeichnet. Vielleicht kannte sie nicht den englischen Begriff für Bundesland (federal state). Tatsächlich stammt die 40-jährige Politikerin aus "einem Dorf in der Nähe von Hannover". Erst 2005 zog sie nach Potsdam und trat dort den Grünen bei. Vielleicht meinte sie mit "ich komme aus" ("I come from"), woher sie am Tag selbst angereist ist.
"Mein Großvater kämpfte dort im Winter 1945 an diesem Fluss, an dieser Grenze."
An diesem Satz sind mehrere Punkte fragwürdig. Baerbock bezieht sich auf die Grenze zwischen den Städten Frankfurt/Oder und Słubice (Polen). Die Rote Armee begann am 16. April 1945 den Angriff auf Frankfurt/Oder – der Beginn der Schlacht um die Seelower Höhen. Das war demnach im Frühling 1945. Oder soll Baerbocks Großvater im "Winter 1945" dort gekämpft haben, sprich ab Dezember 1945 – als Werwolf oder Saboteur?
Die Grünen-Politikerin formuliert explizit, ihr Großvater habe "an diesem Fluss, an dieser Grenze" gekämpft. Allerdings markierte die Oder bis zum Kriegsende 1945 keineswegs eine Grenze, sondern floss durch Frankfurt/Oder innerhalb der Mark Brandenburg. Verbindlich wurde die Oder als Grenze zwischen der sowjetischen Besatzungszone in Deutschland erst durch das Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945. Völkerrechtlich anerkannt wurde der Grenzverlauf entlang der Oder-Neiße-Grenze zwischen der DDR und der VR Polen im Görlitzer Abkommen vom 6. Juli 1950. Die BRD erkannte diesen Grenzverlauf erst mit dem Warschauer Vertrag am 7. Dezember 1970 gegenüber der VR Polen an. Durch aufmerksamen Geschichtsunterricht oder Wikipedia hätte so ein Bock nicht geschossen werden können.
"Ich stand 2004 auf dieser Brücke, die offensichtlich wiederaufgebaut wurde ..."
Offensichtlich oder nicht, die Stadtbrücke in Frankfurt/Oder wurde am 19. April 1945 durch die abziehenden deutschen Truppen gesprengt, um den Vormarsch der Roten Armee zu verzögern. Vielleicht hat sogar Baerbocks Großvater, sofern er im Frühling 1945 auch "dort" war, selbst Hand angelegt? Das kann man wissen, wenn man die Hintergründe des Treffens zwischen dem deutschen Außenminister Joschka Fischer und seinem polnischen Amtskollegen Wlodzimiers Cimoszewicz im Jahr 2004 aufmerksam gelesen oder anderweitig mitbekommen hätte.
"Die Wiedervereinigung Europas"?
"… als der Außenminister Joschka Fischer und sein polnischer Amtskollege erneut die Wiedervereinigung Europas feierten."
Hier wird man stutzig. Nicht nur, dass Fischer und Cimoszewicz anscheinend "erneut" gefeiert haben – das mögen sie vielleicht schon viele Mal gemacht haben, vielleicht auch aus demselben Anlass. Aber was soll die "Wiedervereinigung Europas" sein? "Wieder" impliziert eine bereits bestehende Vereinigung, die danach getrennt wurde, um auf ein Neues besiegelt zu werden. Es soll laut Baerbock also a) bereits eine Einigung Europas gegeben haben; b) soll diese nach einer Trennung "wieder" geschlossen worden sein, sodass die beiden Außenminister diesen Anlass für eine Sause nutzen konnten.
Man könnte schon staunen über die Kategorie Europa und wie dieser Kontinent, dessen politischen und geographischen Grenzen keineswegs konsensfähig sind in den öffentlichen Diskursen, wohl vereint werden konnte. Die Römer haben es einst versucht, genauso Napoleon und auch die deutschen Faschisten hatten einen Plan zur Neuordnung des europäischen Kontinents – Vorläufer dessen waren die Pläne des Wilhelminischen Reichs für ein deutschgeprägtes "Mitteleuropa". Baerbock wird sich doch nicht auf eines dieser Konzepte berufen – zumal all diese letztlich gescheitert sind und wohl kaum von einer "Wiedervereinigung" die Rede sein könnte?
Mit viel Wohlwollen kann man verstehen, dass die Grünen-Kanzlerkandidatin die EU als den Grund für die Partystimmung zwischen den beiden Außenministern ansieht – immerhin ist Polen im Jahr 2004 in die EU eingetreten. Das sieht Baerbock wohl als eine Art "Vereinigung Europas" an, wobei klar ist, dass eine tatsächliche "Vereinigung" zwischen Deutschland und Polen nicht vollzogen wurde. Von "Vereinigungen" mit Deutschland haben die Polen in der Geschichte bereits genug erlebt durch die Teilungen Polens, wodurch ein großer Teil an Preußen fiel, durch die Besetzungen im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Die "Einigung" Polens mit dem Hitlerreich kostete schätzungsweise sechs Millionen Polen das Leben, darunter über drei Millionen polnischer Juden.
Auf den Schultern von Wehrmachtssoldaten
"Wow, wir stehen nicht nur auf den Schultern von Joschka Fischer, sondern auch auf denen unserer Großeltern, die es möglich machten, dass Länder, die Feinde waren, erneut nicht nur in Frieden, sondern auch in Freundschaft zusammen sind."
Abgesehen von der abgedroschenen Redensart – alle Teilnehmer der Feierlichkeit würden auf den enormen Schultern des Außenministers stehen – ist es zudem fraglich, was Baerbock meint, wenn sie sagt, dass "unsere Großeltern" – also auch ihr Großvater – "es möglich machten, dass Länder, die Feinde waren, erneut nicht nur in Frieden, sondern auch in Freundschaft zusammen sind".
Es gibt verschiedene Betrachtungsweisen von Geschichte. Logisch ist, dass eine Generation auf die nächste folgt. Impliziert man einen beständige Weiterentwicklung der Geschichte, kann man ein Bild verwenden, dass eine Generation "auf den Schultern" der vorangegangenen steht. Jede noch so kleine historische Tat führte dazu, dass ein späteres Ereignis eingetreten ist. Das Phänomen wurde auch als Schmetterlingseffekt beschrieben: Ohne Hitlers Schnurrbart und ohne Baerbocks Großvater, der für das Großdeutsche Reich kämpfte, hätte es keine EU gegeben.
Damit ist aber keine Kausalbeziehung aufgestellt, die es rechtfertigt zu sagen, diese Faktoren hätten es unmittelbar "ermöglicht". Um dies zu argumentieren, müsste man den Geschichtsprozess fatalistisch begreifen als eine Art unabwendbares Schicksal, in dem alles so kommt, wie es kommen muss – mitsamt erstem Anstoß bzw. Schöpfer.
In jedem anderen Fall müsste man dezidiert argumentieren, wie genau Baerbocks Großvater beigetragen haben soll, ein Europa "in Frieden" und "auch in Freundschaft" zu ermöglichen. An anderer Stelle berichtete die Grünen-Politikerin wie ebendieser Großvater sich laut Welt "im September 1939 als Wehrmachtsoldat aus ganz anderen Gründen Polen näherte". Er hat also von Beginn an den Angriffskrieg des faschistischen Deutschlands mitgetragen zur Unterwerfung Europas unter die deutsche Herrschaft, zur Versklavung und Vernichtung der slawischen Völker. Glaubt man Baerbocks Darstellung hat ebendieser Großvater noch im Winter 1945 für Hitlers Reich gekämpft – bis zum Endsieg oder Untergang.
Bei allem Schmunzeln der Grünen-Parteivorsitzenden und womöglich wohlwollender Erinnerung – die Wehrmacht, inklusive des Baerbock-Großvaters, machte keinen freundschaftlichen Ausflug nach Polen. Sie wurden zum Morden geschickt. Und auch an besagter Brücke stand Opa Baerbock nicht nur als stiller Zeuge der Geschichte, sondern sollte möglichst viele Sowjetsoldaten erschießen, darunter auch Europäer wie Russen, Ukrainer, Letten, Litauer, Esten, Weißrussen. Wie sollen diese Handlungen des Großvaters dazu beigetragen haben, Frieden und Freundschaft in Europa zu fördern? Auf wessen Schultern sieht sich die Grünen-Kanzlerkandidatin?
Epilog
"Dies ist der Platz, wo ich stehe in meinem Kampf für ein Europa, das in Freundschaft und einem gemeinsamen, integrierten Markt lebt."
Mit diesem Satz schließt Baerbock ihre Argumentation. Es bleibt an uns, sich zu sorgen, dass ihr "Kampf" und ihr "Europa" keine Ähnlichkeit haben mit den Vorstellungen ihres Großvaters, und dass die von ihr gefeierte "Wiedervereinigung Europas" nicht stattfindet, wenn man die historischen Vorbilder der "Vereinigung Europas" betrachtet.
Immerhin kann man sagen, der letzte Satz erscheint erstaunlich plausibel nach den schwammigen Ausführungen zuvor. Dass Baerbock für ein Europa mit "einem gemeinsamen, integrierten Markt" kämpft, dürfte vollkommen unzweifelhaft sein. Wo sie ihr Europa enden lässt, ist dabei eher dubios.
Quelle: RT DE