Analysen zur Türkei: Werden Neuwahlen das Präsidentenproblem lösen?
Archivmeldung vom 09.05.2007
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 09.05.2007 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Thorsten SchmittZwei wichtige Entscheidungen sind in den letzten Tagen in der Türkei gefallen. Zum einen, dass am 22. Juli vorgezogene Neuwahlen zum Parlament stattfinden werden. Zum zweiten die Entscheidung, dass auch beim zweiten Wahldurchgang nicht genügend Abgeordnete im Parlament anwesend waren, um einen neuen Staatspräsidenten mit der erforderlichen Mehrheit von zwei Drittel der Abgeordneten wählen zu können.
Letzteres war keine Überraschung, denn nach dem Urteil des Verfassungsgerichtes hatte die Opposition bereits angekündigt, dass sie der Wahl fern bleiben würde. Ob der Ministerpräsident deshalb gut beraten war, auf diesem zweiten Wahlgang zu bestehen, darf bezweifelt werden. Tatsache ist, dass die Wahl eines neuen Staatspräsidenten bis nach der Wahl zu einem neuen Parlament so gut wie unmöglich ist.
Vor diesem Hintergrund hatte der amtierende
Staatspräsident Sezer bereits angekündigt, dass er davon ausgeht, bis zur Wahl
eines neuen Staatspräsidenten weiter im Amt zu bleiben. Daran ist die regierende
AKP aber nicht interessiert. Sollte sie nun den Parlamentspräsidenten
kommissarisch mit dieser Funktion beauftragen, weil er nach der türkischen
Verfassung der Vertreter des Staatspräsidenten ist, steht neues Ungemach ins
Haus. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die CHP in diesem Fall erneut das
Verfassungsgericht anrufen würde.
Werden Neuwahlen das Präsidentenproblem lösen?
Ungeachtet dieser Unsicherheiten für die nächsten Wochen stellt
sich die Frage, ob Neuwahlen das türkische Problem lösen werden. Drei Ausgänge
der Parlamentswahl sind denkbar.
Variante 1: Die AKP erhält so viele
Stimmen, dass sie im Parlament (dank 10 Prozent Sperrklausel) die
Zweidrittel-Mehrheit bei den Parlamentssitzen erhält.
Variante 2: Die
AKP erhält zwar prozentual die meisten Stimmen, da aber die Partei des Rechten
Weges (DYP) und die Mutterlandspartei (Anap) fusioniert haben und damit, ebenso
wie die CHP, die 10 Prozent Hürde überspringen, hat die AKP nur die absolute
nicht aber die Zweidrittel-Mehrheit.
Variante 3: Entgegen allen Prognosen
haben sich die Ereignisse der letzten Wochen nicht zu Gunsten der AKP ausgewirkt
und in Verbindung mit einer deutlich höheren Wahlbeteiligung als bei der Wahl
2002, verliert die AKP deutlich an Prozenten und Wahlkreisen, so dass sie nicht
mehr die absolute, sondern nur noch eine einfache Mehrheit im Parlament
hat.
Anmerkung: Die Möglichkeit, dass die AKP nicht einmal mehr die
einfache Mehrheit im Parlament hat, ist so unwahrscheinlich, dass man sie nach
heutigem Stand ausschließen kann.
Tatsache ist, dass bei allen drei
Varianten die AKP weiter im Parlament gute Regierungsarbeit machen könnte. Bei
den Varianten 2 und 3 aber verfassungsändernde Beschlüsse des Parlamentes eher
unwahrscheinlich sind, was sogar zu einer Beruhigung in der politischen
Landschaft führen könnte, allerdings den strategischen Zielen der AKP
entgegenstehen würde.
Auswirkung auf die Wahl des neuen Staatspräsidenten
Welche Auswirkung hat das Wahlergebnis auf die Wahl
eines neuen Staatspräsidenten, vorausgesetzt dieser wird wie bisher vom
türkischen Parlament gewählt?
Variante 1 würde dazu führen, dass die AKP
ohne Probleme einen Staatspräsidenten ihrer Wahl nominieren und wählen könnte
(und würde). Nach den Erfahrungen der letzten Wochen ist ein offener
Militärputsch auf Grund der veränderten politischen Großwetterlage eher
unwahrscheinlich. Doch wird mit massiven Machtkämpfen im Hintergrund zu rechnen
sein.
Variante 2 würde aller Voraussicht nach die gleiche Situation ergeben, wie sie bereits jetzt bestanden hat. Die gesamte Opposition nimmt an den Abstimmungen zu einem neuen Staatspräsidenten nicht teil und lässt damit die Wahlgänge mit Bezug auf das bestehende Urteil des Verfassungsgerichtes als ungültig erklären. Ob die AKP letztlich dann der gemeinsamen Wahl eines Kompromisskandidaten zustimmen wird, ist im Augenblick nicht vorherzusagen. Falls nicht, würde die Türkei in eine fatale Phase der generellen Lähmung geraten. Leidtragende wären nicht nur die Unternehmen, der Außenhandel und die Tourismusbranche, sondern vor allen Dingen die Bürger.
Bleibt noch Variante 3. In diesem Fall wüsste die AKP vom ersten Tag an, dass sie nur noch mit einer Politik des Kompromisses weiterkommen kann und sich darauf einstellen (müssen). Als 11. Staatspräsident würde oberster Repräsentant der Türkei eine Person werden, die das Weiterbestehen des Laizismus garantieren würde. Ob diese Person eher Europa freundlich oder nationalistisch gesinnt ist, ist nicht vorherzusagen.
In jedem Fall würde diese Variante aber die Konsequenz haben, dass die derzeitigen Auseinandersetzungen um die Besetzung des Amtes der Staatspräsidenten ein Ende hätten und gleichzeitig echte demokratische Arbeit im Parlament möglich und notwendig würde.
Jetzt bleibt abzuwarten, welchen Auftrag die Wähler ihren Politikern am 22. Juli mit auf den Weg geben. Spannend wird es - auch für Europa - in den nächsten Wochen in jedem Fall werden.
Quelle: Pressemitteilung Jürgen P. Fuß, Mit-Herausgeber und Chefredakteur der AKTUELLEN TÜRKEI RUNDSCHAU