Die Sanitäter und das Maschinengewehr
Archivmeldung vom 18.04.2006
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Freigeschaltet durch Michael DahlkeDie Bundeswehr in Afghanistan: Verstöße gegen das Völkerrecht sollen durch geänderte Dienstvorschriften nachträglich legalisiert werden
Von Jürgen Rose
Dass US-Soldaten in Guantanamo, in Abu Ghraib und Bagram
systematisch schweren Völker- und Menschenrechtsrechtsbruch begehen,
ist zweifelsfrei dokumentiert. Noch nicht herumgesprochen hat sich
hingegen, dass auch die Bundeswehr bei ihrem Einsatz im Rahmen der
ISAF-Mission in Afghanistan fortwährend Völkerrechtsverstöße begeht.
Konkret geht es um den Kampfeinsatz deutscher Sanitätssoldaten an der
Waffe, um die dortigen Feldlager der multinationalen Truppen zu
sichern. Eine Praxis, wie sie durch das "Humanitäre Völkerrecht in
bewaffneten Konflikten" strikt untersagt wird. Dieses
"Kriegsvölkerrecht", wie es oft verkürzt genannt wird, ist in den vier
Genfer Abkommen von 1949 sowie den beiden Zusatzprotokollen aus dem
Jahr 1977 kodifiziert.
Die politische Verantwortung für die Missachtung dieser Normen liegt beim Bundesverteidigungsministerium und dem in Völkerrechtsfragen federführenden Auswärtigen Amt. Dort freilich wird unisono behauptet, die Bundeswehr leiste in Afghanistan einen reinen Friedenseinsatz - deshalb dürfe das Sanitätspersonal, wie in jeder heimischen Kaserne auch, durchaus zum Wachdienst eingeteilt werden. Nur dass in Deutschland nicht eine einzige Kaserne von auf Türmen postierten Maschinengewehrschützen und voll aufmunitioniert bereit stehenden Panzerfahrzeugen bewacht wird, weil das nach geltender Gesetzes- und Vorschriftenlage (ZDv 10/6 - "Der Wachdienst in der Bundeswehr") unzulässig wäre. Schon gar nicht dürfen hierzulande Soldaten ohne entsprechende Schießausbildung auf Posten ziehen. In Afghanistan dagegen kann es sein, dass am 18. April 2005 ein Sanitätssoldat im Dienstgrad eines Stabsgefreiten auf Befehl stundenlang als MG-Schütze Dienst tun muss, ohne auch nur im Mindesten an dieser Waffe ausgebildet zu sein. Der Betroffene meldet dies pflichtgemäß seinem Vorgesetzten, einem Oberfeldwebel, muss aber trotzdem auf Posten bleiben.
Davon abgesehen bestreiten Verteidigungs- wie Außenministerium, dass die Bestimmungen des Kriegsvölkerrechts beim ISAF-Einsatz überhaupt zum Tragen kämen. Wörtlich heißt es dazu in einer offiziellen Stellungnahme: "Völkerrechtliche Besonderheiten gelten für Angehörige des Sanitätsdienstes nicht im Frieden, sondern in Zeiten internationaler bewaffneter Konflikte". Nun handelt es sich bei dem Wort "Frieden" gewiss um einen äußerst dehnbaren Begriff. Mit Sicherheit nicht mehr anwenden freilich lässt er sich auf eine Situation, in der bewaffnete Überfälle, Raketen- und Granatenbeschuss, Anschläge mit Minen und Sprengfallen, Selbstmordattentate mit Verwundeten und Toten fast an der Tagesordnung sind. Vollends absurd wird die regierungsamtlich propagierte These vom Friedenshort am Hindukusch, wenn die Bundeswehr ihren in Afghanistan eingesetzten Soldaten den sogenannten "Auslandsverwendungszuschlag" in der höchsten Stufe zahlt, den zu gewähren die Existenz "extremer Belastungen und erschwerender Besonderheiten … unter kriegsähnlichen Bedingungen" sowie eine "konkrete Gefährdung durch Kampfhandlungen, Beschuss oder Luftangriffe" voraussetzt.
"Alles oberlehrerhaftes Geschreibe"
Gerade wegen der in Afghanistan unbestreitbaren Bedrohung müssen die ISAF-Formationen bis heute all ihre Lager und Depots gegen militärische Angriffe verteidigen. So wird etwa das in Kabul gelegene Camp Warehouse durch einen kompletten Sicherungszug inklusive vier Außentürmen mit Maschinengewehren sowie einem gepanzerten Fahrzeug mit MG auf Lafette geschützt. Dabei wechseln ISAF-Kontingente unterschiedlicher Nationalität einander ab, so dass Ende 2004 nach dem Abzug von Infanteristen aus Georgien deutsche Soldaten an der Reihe waren. Da aber im Bundeswehrkontingent der Anteil von Kampfeinheiten zu gering und aus finanziellen Gründen keine Verstärkung möglich war, wurde auch das Personal des Sanitätseinsatzverbandes herangezogen, um Camp Warehouse zu sichern. Den Befehl hierzu erteilte der damalige Kommandeur des deutschen ISAG-Kontingentes, Brigadegeneral Berk, gegen den Einspruch seines Rechtsberaters, Oberst d. R. Bothe. Der hatte eine anderslautende Stellungnahme aus dem Verteidigungsministerium mit dem Kommentar "alles oberlehrerhaftes Geschreibe" versehen und auf der Einhaltung geltenden Völkerrechts bestanden.
Doch mit ministerieller Rückendeckung dürfen Bundeswehrgenerale offenbar zentrale Normen der Genfer Konventionen außer Kraft setzen, zum Beispiel den Artikel 12 Abs. 4 des I. Zusatzprotokolls, in dem glasklar formuliert ist: "Sanitätseinheiten dürfen unter keinen Umständen für den Versuch benutzt werden, militärische Ziele vor Angriffen abzuschirmen." Bedeutungslos scheint auch Art. 9 des II. Zusatzprotokolls, wo es heißt: "Es [das Sanitätspersonal] darf nicht gezwungen werden, Aufgaben zu übernehmen, die mit seinem humanitären Auftrag unvereinbar sind." Mit Sicherheit zählt hierzu der Einsatz eines Sanitätssoldaten als MG-Schütze, der sich "fallweise seine Patienten selber schießt", wie eine Sanitäterin sarkastisch kommentiert. Das Fatale dieser völkerrechtswidrigen Praxis besteht darin, dass Sanitätsangehörige dadurch ihren vom Völkerrecht verbürgten Schutz verlieren. Denn der gilt lediglich, wenn Sanitätssoldaten "ausschließlich zum Aufsuchen, zur Bergung, Beförderung oder Behandlung von Verwundeten und Kranken oder zur Verhütung von Krankheiten … sowie ausschließlich zur Verwaltung von Sanitätseinheiten und -einrichtungen" eingesetzt werden. Verloren gehen Neutralität und Glaubwürdigkeit des Sanitätsdienstes, dessen eigentlicher Auftrag darin besteht, "Menschen zu heilen und zu pflegen".
Recht ist biegsam
Alle anderen an ISAF beteiligten Nationen halten sich übrigens uneingeschränkt an die Regeln des Völkerrechts, einzig die Bundeswehr hat sich mit ihrer Praxis isoliert.
Zur Ehrenrettung der deutschen Sanitätstruppe ist anzumerken, dass in ihren Reihen die völkerrechtswidrigen Befehle mitunter auf heftigen Widerspruch stoßen, wobei unbotmäßige Soldaten mit drakonischer Disziplinierung zur Räson gebracht werden. Aufsehen erregte der Fall von Hauptfeldwebel Christiane Ernst-Zettl, die mit einer Disziplinarbuße von 800,- Euro belegt und strafweise aus Kabul in die heimatliche Kaserne zurückbeordert wurde. Ihr "Vergehen": Sie hatte sich als Nichtkombattantin "persönlich für die Einhaltung der Regeln des Humanitären Völkerrechts verantwortlich" gefühlt - wie es die Dienstvorschrift von ihr verlangt.
Höchst aufschlussreich, dass als Konsequenz nunmehr die einschlägige
Zentrale Dienstvorschrift 15/2 der Bundeswehr geändert werden soll.
Bislang gebietet dort die Ziffer 208 klar und unmissverständlich: "Die
Regeln des humanitären Völkerrechts sind auch bei friedenssichernden
Maßnahmen und anderen militärischen Einsätzen der Vereinten Nationen zu
beachten." Eingefügt werden soll nunmehr eine neue Ziffer 301, die
lautet: "Bei Einsätzen der Bundeswehr, die völkerrechtlich keine
internationalen bewaffneten Konflikte darstellen (wie z. B.
friedenssichernde oder friedenserhaltende Stabilisierungseinsätze),
unterliegt auch das Sanitätspersonal den für das jeweilige
Gesamtkontingent erlassenen Rules of Engagement (ROE). Rechtliche
Gründe sprechen nicht dagegen, Sanitätspersonal zeitweilig auch für
andere Aufgaben im Einsatz (beispielsweise Übernahme von
Sicherungsaufgaben in gemeinsamen Feldlagern) einzusetzen." Sollte
dieser Passus in Kraft treten, wäre das erneut ein Verstoß gegen das
humanitäre Völkerrecht. Denn in der Präambel des I. Genfer
Zusatzprotokolls bekräftigen die Vertragsparteien, "dass die
Bestimmungen der Genfer Abkommen vom 12. August 1949 und dieses
Protokolls unter allen Umständen uneingeschränkt auf alle durch diese
Übereinkünfte geschützten Personen anzuwenden sind, und zwar ohne jede
nachteilige Unterscheidung, die auf Art und Umfang des bewaffneten
Konflikts … beruht … ." (Hervorhebung des Verf.) Zum Schaden der
völkerrechtlich geschützten Sanitätssoldaten wird augenblicklich
versucht, die Mission am Hindukusch in einen rein humanitären
Friedenseinsatz umzudeuten - getreu dem unter "furchtbaren Juristen"
bewährten Motto: "Das Recht ist biegsam, also lasst es uns beugen!"
Quelle: Dipl. Päd. Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr. Er vertritt in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen.