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Dr. Markus Kaim: "Sauberer Krieg" ist nur eine Fiktion

Archivmeldung vom 19.09.2009

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 19.09.2009 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt
Schützenpanzer MARDER der Quick Reaction Force (QRF) (Quelle: Bundeswehr/Rolf W.)
Schützenpanzer MARDER der Quick Reaction Force (QRF) (Quelle: Bundeswehr/Rolf W.)

Acht Jahre Einsatz haben die Lage in Afghanistan nicht verbessert. Im Gegenteil: In den vergangenen fünf Wochen gab es vier verheerende Anschläge von Taliban auf die ausländischen Soldaten und afghanische Zivilisten. Bei der Präsidentschaftswahl kam es zu massiven Wahlfälschungen. 30 zivile Opfer beim von der Bundeswehr angeforderten Luftschlag in Kundus verstärken die Abzugsstimmung in Deutschland.

Experte Dr. Markus Kaim erwartet ein baldiges Abbröckeln der ISAF-Mission.

Die ISAF-Luftschläge gegen die Tanklastzüge bei Kundus haben ein Tabu geknackt. Wird der Afghanistan-Einsatz jetzt Wahlkampfthema?

Dr. Markus Kaim: Nicht wirklich. Und zwar deshalb nicht, weil der Allparteienkonsens abzüglich der Linken zu Afghanistan hält. Bis zum 27. September wird das so bleiben. Wie es danach weitergeht, ist eine ganz andere Frage. Ich kann mir vorstellen, dass die eigentlichen politischen Folgewirkungen dieses Luftangriffes erst in der nächsten Legislaturperiode sichtbar werden. Denn der neue Bundestag, der sich Mitte Oktober konstituieren wird, muss sich unmittelbar mit der Verlängerung und der Ausgestaltung des Afghanistan-Mandats der Bundeswehr befassen. Dieses endet am 13. Dezember. Und da könnte ich mir vorstellen, dass der eine oder andere Abgeordnete mit Blick auf die Stimmung in den Wahlkreisen zunehmend skeptisch wird. Folglich könnte der Druck wachsen, das Mandat mit einer Exit-Strategie zu versehen, wie sie im jüngsten Papier von Außenminister Steinmeier skizziert wird.

Wird die Marke, die die Wahlkämpfer gesetzt haben, 2013 sollen die Voraussetzungen für einen Abzug geschaffen sein, dann noch eine Rolle spielen?

Dr. Kaim: Wenn Politik immer so rational abliefe, wäre es wunderbar: Man einigt sich auf ein Ziel und sobald es erreicht ist, zieht man ab. Aber so läuft Politik nicht. Wir sehen in allen Hauptstädten der westlichen Verbündeten eine große Unzufriedenheit mit dem Einsatz, weil die Ergebnisse, auf die die NATO zielt, bisher ausgeblieben sind, im Gegenteil sich die Sicherheitslage sogar verschlechtert hat. Selbst in Paris, London und Washington, wo man sich mit der Anwendung von militärischer Gewalt leichter als in Berlin tut, ist die Geduld mit der Afghanistan-Mission langsam am Ende. Gerade in den USA werden derzeit Gleichungen aufgemacht, die da lauten: Wenn wir in Afghanistan nicht innerhalb eines Jahres signifikante Verbesserungen sehen, werden wir den Einsatz beenden. Das heißt allerdings nicht, dass der Westen Afghanistan völlig vernachlässigen wird. Die Verbündeten sprechen über die Zusammenarbeit bei der Ausbildung von Polizisten und Soldaten und über die Unterstützung von gutem Regierungshandeln. Vielleicht bleiben sogar US-Soldaten im Land - allerdings mit einem anderen Mandat. Aber die ISAF-Mission der NATO wird sich vermutlich nicht mal mehr bis 2013 halten.

Für die Regierung stand das Wort "Krieg" bisher auf dem Index. Zeugt diese Vernebelungstaktik von mangelndem Respekt gegenüber dem Souverän - dem Wähler?

Dr. Kaim: Ich kann die politischen und juristischen Gründe zwar nachvollziehen, weshalb die Entscheider das Wort "Krieg" vermeiden. Aus sozialwissenschaftlicher Sicht ist es aber überhaupt keine Frage, was die ISAF-Mission ist: Natürlich handelt es sich um Krieg. Um es zu präzisieren: Was NATO und Bundeswehr in Afghanistan letztlich machen, ist Aufstandsbekämpfung. Es geht darum, Sicherheit auf dem Gebiet Afghanistans auch gegen Widerstand militärisch zu gewährleisten. Das wird durch die Bekämpfung der Taliban und durch die Ausbildung der afghanischen Armee und der Polizei gewährleistet, damit in absehbarer Zeit diese die Aufgabe übernehmen können.

Aufstandsbekämpfung wurde aber selten als Begründung des Einsatzes genannt, eher Brückenbau und Schutz für Frauen vor Islamisten. Ist diese Unklarheit mitverantwortlich für die mehrheitliche Ablehnung bei den Bundesbürgern?

Dr. Kaim: Zumindest haben die unterschiedlichen und wechselnden Begründungen für ein weitverbreitetes Unwohlsein gesorgt. Noch immer verweisen deutsche Politiker auf den 11. September als Begründung, als ginge es vor allem um die deutsche Sicherheit, um Terrorbekämpfung. Dann müsste die Bundeswehr allerdings ein anderes Mandat haben. Etwa das für die "Operation Enduring Freedom", das explizit die Terrorbekämpfung vorsah. Aber dieses Mandat ist 2008 bezüglich Afghanistan nicht verlängert worden. Es kann also ernsthaft niemand mehr derartiges für die deutschen Truppen behaupten, losgelöst von der Frage, ob sich überhaupt noch El Kaida in Afghanistan befindet. Die andere Argumentationslinie bezieht sich auf die humanitären Aktionen wie Brunnen bohren und Schulen bauen. Das ist zwar löblich, hat aber nichts mit dem Mandat zu tun. Tatsächlich sieht die Resolution 1386 des UN-Sicherheitsrates vor, dass ISAF Sicherheit gewährleistet, damit andere - also zivile Helfer und afghanische Organisationen - den Wiederaufbau leisten können. In der operativen Wirklichkeit konfrontiert dieses Mandat die NATO-Truppen in Afghanistan mit einem irregulären Krieg. Hier stehen sich keine uniformierten Armeen gegenüber, bei denen sich Freund und Feind leicht identifizieren lassen. Hier kämpfen Aufständische aus dem Schutz der Zivilbevölkerung heraus. Bei der Aufstandsbekämpfung werden also leider immer auch Zivilisten in Mitleidenschaft gezogen werden. Die häufig anzutreffende Fiktion eines "sauberen Krieges" lässt sich nicht aufrechterhalten.

Die Alliierten brauchten keine sechs Jahre, um Hitler-Deutschland und Japan niederzuringen. Warum gibt es nach acht Jahren immer noch keine Sicherheit am Hindukusch?

Dr. Kaim: Der Hauptfehler war, dass zu Beginn der Mission viele, nicht nur Deutschland, den Einsatz unterschätzt haben. Viel zu spät wurden die notwendigen Ressourcen zur Verfügung gestellt - sowohl die militärischen als auch die zivilen. Die Bundesregierung entsandte zunächst 1200 Soldaten, das waren viel zu wenig. Jetzt sind bis zu 4500 Soldaten vor Ort. Der Kundus-Vorfall zeigte wieder: Wären mehr Bodentruppen vor Ort, die imstande wären, die Taliban nicht nur für eine befristete Zeit zu vertreiben, sondern die Regionen auf Dauer zu sichern, wäre die Sicherheitslage besser. Weil wir diese Lage aber nicht haben, muss man öfter zu Luftschlägen greifen als angemessen ist.

Gefährdet ein baldiger Abzug des Westens das Erreichte?

Dr. Kaim: Das ist schwer zu beurteilen. Sicher ist aber, dass die Taliban nach einem Abzug der westlichen Truppen erstarken werden. Es wäre denkbar, dass das Land zumindest zweigeteilt wird in ein Taliban-Afghanistan und ein Karsai-Afghanistan mit einer steigenden Bürgerkriegsgefahr. Außerdem würde das Land wohl erneut zum Spielball der Nachbarn Iran, Pakistan, Indien und der zentralasiatischen Republiken. Offen bleibt, ob das Land erneut Rückzugsraum für El Kaida wird. Dennoch wird der Abzug der ISAF wahrscheinlich innerhalb der nächsten Legislaturperiode kommen.

Sind die Ziele der Allianz vermessen?

Dr. Kaim: Jetzt nicht mehr. Mittlerweile herrscht Realismus vor. Doch für eine lange Zeit waren die Ziele unrealistisch. Die Implantierung einer Demokratie westlicher Prägung, die Zerschlagung der Drogen-Ökonomie und ähnliches war in den kurzen Zeiträumen zu ambitioniert.

Am Hindukusch zerbrach einst das Selbstbewusstsein der Roten Armee. Zerbricht dort auch der Zusammenhalt der NATO?

Dr. Kaim: Das glaube ich nicht. Sieht die Zukunft aber so aus, wie ich es eben skizziert habe, wird das Bündnis in Zukunft zurückhaltender sein, bevor sie derartige Missionen übernimmt. Und das ist das Problematische angesichts vieler Krisenherde auf der Welt. Künftig könnte die NATO wegen der Afghanistan-Erfahrung sogar vor einem Einsatz zur Verhinderung eines Genozids zurückschrecken, obwohl sich die Wertegemeinschaft sonst schnell darüber einig wäre.

Das niederländische und das kanadische Parlament haben Abzugspläne verabschiedet. Vorbilder für den Bundestag?

Dr. Kaim: In der Sache müssen sie das nicht sein. Aber diese Entscheidungen zeigen zumindest, dass Staaten in einer nüchternen, offenen Debatte über derartige Probleme entscheiden können. Diese beide Staaten sind für die NATO besonders interessant, weil ihr Abzug 2010 bzw. 2011 eine militärische und politische Dynamik in Gang setzen wird. Deren Kontingente sind beim umkämpften Kandahar im Süden im Einsatz. Wer wird sie ersetzen? Und wie will die Bundesregierung im kommenden Jahr - wenn die Niederländer abziehen - der Öffentlichkeit erklären, warum sie ihre Truppen vor Ort belässt? Es besteht die Gefahr, dass der erste Abzug die gesamte ISAF-Mission aushöhlt, weil keine Regierung die letzte sein will.

Hat Kundus die deutsche Illusion endgültig zerstört, es gäbe einen sauberen Krieg ohne zivile Opfer?

Dr. Kaim: Er hat zumindest das Hauptproblem für die deutsche Öffentlichkeit auf die Spitze getrieben. Es hat sich in den vergangenen Jahren gezeigt, dass die deutsche Gesellschaft eher akzeptiert, dass deutsche Soldaten im Einsatz sterben als dass deutsche Soldaten im Einsatz Zivilisten töten. Die bei Kundus getöteten 30 Zivilisten unterstreichen, dass ein asymmetrischer Krieg nicht "sauber" sein kann.

War diese Ernüchterung nötig, um zu einer verantwortungsvollen Neudefinition deutscher Sicherheitspolitik zu kommen?

Dr. Kaim: So weit würde ich nicht gehen, aber sie ist notwendig, um einen unverstellten Blick auf die Afghanistan-Mission zu erhalten. Die Politik neigt manchmal dazu, die Dramatik des Einsatzes zu verschleiern. Häufig klingen entsprechende Äußerungen harmlos und konstruktiv. So ist Krieg aber nicht. Wer also für einen Verbleib der Bundeswehr am Hindukusch plädiert, muss ehrlicherweise einräumen, dass es zu solchen Vorfällen wie bei Kundus kommen kann.

Quelle: Landeszeitung Lüneburg

 

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