Türkei-Experten Dr. Oliver Ernst: "Dramatische Fehlentwicklung"
Archivmeldung vom 31.07.2015
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittIm Windschatten militärischer Schläge gegen den Islamischen Staat scheint sich in der Türkei eine der dunkelsten Epochen in den türkisch-kurdischen Beziehungen zu wiederholen. Die Aussöhnung wurde beendet, es droht Krieg zwischen PKK und türkischen Sicherheitskräften. Türkei-Experte Dr. Oliver Ernst von der Konrad-Adenauer-Stiftung sieht im antikurdischen Kurs die innenpolitische Abfederung der bei vielen Türken unpopulären Luftschläge gegen den IS und er warnt: "Ein Wiederaufflammen des Krieges mit der PKK kann auch auf deutschen Straßen zu Konflikten führen".
Will Erdogan unter dem Deckmantel des Krieges gegen den IS auch die kurdische Frage mit militärischen Mitteln beantworten?
Dr. Oliver Ernst: Es sieht so aus. Tatsächlich haben wir in den vergangenen Monaten eine Abwendung vom Friedensprozess mit der PKK beobachten müssen. So haben im Wahlkampf zu den Parlamentswahlen im Juni sowohl die AKP-Führung als auch Präsident Erdogan massiv versucht, die prokurdische HDP in die Terroristenecke zu stellen. Es wurde versucht, diese wichtige Kraft für den Friedensprozess mit der Kurdenmiliz PKK auszuschalten. Die Razzien der jüngsten Tage gegen mutmaßliche kurdische Terroristen sowie die türkischen Luftschläge gegen kurdische Stellungen in der Türkei, aber auch auf irakischem und syrischem Territorium, lassen keinen anderen Schluss zu, als dass Erdogan und die am 7. Juni eigentlich ja abgewählte AKP-Regierung unter Ministerpräsident Davutoglu dem politischen Lösungsprozess mit den militanten PKK-Kräften komplett den Boden entziehen wollen.
Ist Präsident Erdogan ein diplomatischer Coup gelungen, indem er sich scheinbar Rückendeckung der NATO-Verbündeten für seinen Kurs holte?
Dr. Ernst: Das ist in der Tat eine sehr geschickte Vorgehensweise gewesen, die vermutlich mit den USA so abgestimmt war. Auch im Weißen Haus ist man sich bewusst, dass aus den europäischen Hauptstädten deutlich kritischere Töne zu Ankaras Kurdenpolitik und Ankaras Verhältnis zu den IS-Terroristen zu vernehmen sind, dass man daher die europäischen NATO-Verbündeten für dieses schwierige Bündnis mit der Türkei gegen den Terror von PKK und IS auch ins Boot holen muss.
Die prokurdische HDP holte auch durch kurdisch-konservative Wähler 13 Prozent bei den Parlamentswahlen. Soll die Aufkündigung des Friedensprozesses ehemalige Wähler der AKP zurück in Erdogans Lager holen?
Dr. Ernst: Die religiös-konservativen Wähler gehören seit jeher zur Basis des politischen Islam und zur Basis der AKP. Die Kemalisten dagegen haben Erdogan wegen seiner Re-Islamisierung der Türkei ohnehin nie gewählt. Wer ihn aber aufgrund seiner unbestrittenen wirtschaftlichen Erfolge seit 2002 gewählt hat, waren türkische Nationalisten, die zwar wenig mit seiner islamistischen Agenda anfangen konnten, aber das Wiedererstarken der Türkei honorierten. Diese Wähler, die bei der Parlamentswahl im Juni die nationalistische MHP gewählt hatten, möchte die AKP mit ihrer harten Linie gegenüber der PKK zurückgewinnen. Außerdem möchte die AKP die religiös-konservativen kurdischen Wähler zurückgewinnen, die bei den letzten Wahlen die HDP gewählt haben. Ich glaube aber nicht, dass mögliche Neuwahlen bei diesen beiden Wählergruppen große Verschiebungen bringen werden. Selbst wenn die konservativen Kurden das Wiederaufleben des PKK-Terrors genauso ablehnen wie die türkische Mehrheitsgesellschaft, so heißt das nicht, dass sie hierfür auch einseitig die pro-kurdische HDP mitverantwortlich machen, wie die AKP-Regierung dies tut. Die nationalistische MHP, die am deutlichsten die militärische Bekämpfung der PKK unterstützt, ist zudem nicht stark genug, um bei Neuwahlen für eine Verschiebung des Koordinatensystems zu sorgen. Sie hatte - wie die HDP - nur 80 Mandate errungen. Gleichwohl ist eine Koalition zwischen islamistischer AKP und nationalistischer MHP durch die gegen die PKK gerichteten Militärschläge der letzten Tage wahrscheinlicher geworden.
Schon bei den letzten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen präsentierte sich die Türkei als gespaltener Staat. Birgt Erdogans Eskalationskurs die Gefahr bürgerkriegsähnlicher Verhältnisse?
Dr. Ernst: Nein, das glaube ich nicht. Denn die jetzige Polarisierung ist schwächer als die der 90er-Jahre - wir haben in den letzten Jahren eine Enttabuisierung des Kurdenproblems erlebt. Die türkischen Kurden werden heute viel weniger stigmatisiert. Sie können sich kulturell, gesellschaftlich, politisch freier entfalten. Auch die Wirtschaft in den kurdisch besiedelten Gebieten in Südostanatolien hat - wie im Rest des Landes - eine dynamische Entwicklung erfahren. Der Ko-Vorsitzende der pro-kurdischen HDP, Demirtas, trat 2014 sogar als Präsidentschaftskandidat an und hat knapp 10 Prozent der Stimmen erzielt. Die HDP hat bei den Parlamentswahlen im Juni über sechs Millionen Wähler hinter sich vereint und ist mit 80 Abgeordneten in der Türkischen Nationalversammlung vertreten. Sie vertritt eher eine links-demokratische als eine kurdisch-nationalistische Agenda, hat sich für den Friedensprozess zwischen der PKK und dem türkischen Staat eingesetzt und die Mordanschläge der PKK auf Soldaten und Polizisten verurteilt. Es ist aber eine dramatische Fehlentwicklung, den erfolgreich angelaufenen Prozess der Befriedung der PKK nun ins Gegenteil zu verkehren. In direkten Gesprächen mit der türkischen Regierung hatte der inhaftierte PKK-Führer Öcalan der Entwaffnung und dem Rückzug der PKK zugestimmt. Hieran sollte die türkische Regierung wieder anknüpfen.
Wie groß ist die Gefahr, dass IS-Sympathisanten in der Türkei, die bisher stillgehalten hatten, nun Terror ins Land tragen?
Dr. Ernst: Türkische Sicherheitsexperten sehen ihren Staat als sehr verwundbar an durch den IS. Es gibt mehrere Tausend IS-Anhänger in der Türkei. Eine große Gefahr geht von Einzeltätern aus - wie der Täter von Suruc oder der, der wenige Tage vor der Wahl ein Attentat auf eine HDP-Kundgebung verübt hatte. Und gegen Einzeltäter lässt sich keine Gesellschaft schützen. Der AKP scheint es aber auch immer noch am politischen Willen zu fehlen, gegen dieses militante islamistische Milieu konsequent vorzugehen.
Lange hat der IS von der stillschweigenden Zusammenarbeit mit dem türkischen Staat profitiert. Fühlt sich das Kalifat jetzt stark genug, um einen NATO-Staat herauszufordern?
Dr. Ernst: Das glaube ich nicht. Aus Sicht des IS war dies nur ein Angriff auf linke und kurdische Unterstützer der Kurden in Kobane. Der Islamische Staat überdehnt bereits jetzt in einem Mehr-Fronten-Krieg seine Kräfte, ist in Syrien und im Irak durch die Schläge der Anti-IS-Koalition in die Defensive geraten. Allerdings sind die Rachedrohungen seitens IS gegen die Türkei ernst zu nehmen. Der IS wird aber nicht türkisches Territorium erobern können, sondern eher durch Selbstmordanschläge Angst und Schrecken verbreiten.
Lange sah Ankara dem Sterben Kobanes zu, jetzt beschießen Erdogans Panzer Stellungen der syrisch-kurdischen Miliz YPG. Wird die türkisch-kurdische Aussöhnung in Blut ertränkt?
Dr. Ernst: Hier muss man differenzieren zwischen der politischen Ebene dieser Auseinandersetzung und der militärisch-terroristischen. Ankara lehnt Verhandlungen mit der PKK nun wieder ab - dies ist eine 180-Grad-Wende. Zugleich wird die HDP in die Terrorecke gestellt und Abgeordneten mit dem Entzug der Immunität gedroht, wenn sie Kontakt zur PKK haben oder hatten. Dies ist wirklich absurd, da die AKP-Regierung diesen Dialog mit der PKK unter Einbezug des HDP-Führers Demirtas im Jahr 2013 ausdrücklich selbst gewollt hatte. Diese von der AKP-Regierung einst geschaffenen Verhandlungskanäle sind auch heute notwendig, um das Blutvergießen zu beenden.
Die Einrichtung einer Sicherheitszone in Syrien soll Flüchtlingen eine Zuflucht bieten und die Ausbildung staatlicher kurdischer Strukturen erschweren. Scharfe Reaktionen aus Damaskus und Moskau sind zu erwarten. Bringt die Sicherheitszone noch mehr Unsicherheit?
Dr. Ernst: Die syrischen Kurden sind besonders erzürnt über diese Pläne, weil sie begonnen haben, sich in dem Rojava (Westkurdistan) genannten syrischen Gebieten nach irakischem Vorbild selbst zu verwalten. Die geplante Sicherheitszone würde ihre Siedlungsgebiete negativ beeinflussen. Ankara dagegen sieht diese Entwicklung in den syrischen Kurdengebieten als Bedrohung, da die syrischen Kurden der PKK näher stehen als etwa die irakischen Kurden in der Autonomen Kurdischen Regionalregierung. Das ist der Hauptgrund für den Beschuss von Stellungen syrischer Kurden. Ankara will sicherstellen, dass die syrischen Kurden auf keinen Fall durch die territoriale Selbstverwaltung als Gewinner aus dem möglichen Zerfall Syriens hervorgehen. Die notwendig erscheinende politische Annäherung der Türkei an die syrischen Kurden ist daher illusorisch. Sie hätte nur eine Chance, wenn vorab innerhalb der Türkei der Friedensprozess mit der PKK erfolgreich wieder aufgenommen werden würde.
Erdogan träumt zum 100. Gründungstag der Republik 2023 von einer Türkei als starker regionaler Vormacht. Gefährdet sein Feldzug gegen die Kurden dieses Ziel?
Dr. Ernst: Zunächst mal ist das 100-jährige Jubiläum ein kemalistisches Jubiläum. Mustafa Kemal Pascha, der auch Vater der Türken (Atatürk) genannt wird, bewirkte aber auch, dass mit der Auflösung des Kalifats und der Abschaffung der arabischen Schrift, der politische Einfluss des Islams in der Türkei bis zum Wahlsieg der AKP im Jahr 2002 massiv zurückgedrängt wurde. In der AKP wird der pro-westlich Kemalismus daher sehr kritisch bewertet. Sie hat seit 2002 versucht, die Türkei wieder stärker in der sunnitisch-muslimisch geprägten Region als im Westen zu verankern und zugleich auch im Innern die sunnitisch-islamische Identität propagiert. Von den arabischen Staaten, die heute teilweise säkularer wirken als die vormals laizistische Türkei - und auch vom Iran - wurde dies immer kritisch beobachtet. Da die türkische AKP-Regierung im Gazastreifen die HAMAS, in Ägypten die Muslimbrüder und in Syrien die islamistischen Milizen unterstützt, hat sie sich regional isoliert. Hauptproblem für die Regionalmachtambitionen bleibt aber tatsächlich der Konflikt mit der PKK. Sollte der seit 1984 geführte Krieg gegen die PKK jetzt wieder erneut aufflammen, wird die politische und wirtschaftliche Stabilität der Türkei langfristig sehr negativ beeinträchtigt werden. Der Feldzug gegen die terroristische PKK sollte daher so schnell wie möglich beendet werden, damit wieder glaubwürdige Verhandlungen aufgenommen werden können. Auf dem Weg zu dieser Einsicht muss die internationale Gemeinschaft die türkische Regierung unterstützen.
Das Interview führte Joachim Zießler
Quelle: Landeszeitung Lüneburg (ots)